ZUM STÜCK
GOTT IST NICHT SCHÜCHTERN
VON OLGA GRJASNOWA
EIN GESPRÄCH MIT DER AUTORIN OLGA GRJASNOWA UND DER REGISSEURIN LAURA LINNENBAUM
Wovon handelt "Gott ist nicht schüchtern“?
Laura Linnenbaum: Von etwas, was wir inzwischen vielleicht fast vergessen haben. Von der Hoffnung, die in den Anfängen der Syrischen Revolution liegt. Von der Kraft und dem Mut, vielleicht sogar dem Übermut einer Generation, die sich traut gegen einen übermächtigen Gegner, gegen ein autokratisches System inmitten komplexer geopolitischer Verstrickungen auf die Straße zu gehen und, gegen alle Widerstände, Zukunft neu zu denken. Und schließlich erzählt der Text vom Verlust. Vom Verlust dieser Hoffnung und des arglosen Glaubens an Veränderung, vom Verlust bisheriger Gewissheiten und geliebter Menschen bis zum Verlust des Lebens: dem Tod. Vom Verlust von all dem, was das eigene Leben, das eigene Selbstverständnis ausgemacht hat: auch der Ort, an dem man arbeitet und sich ein Leben aufgebaut hat – bis hin zu der Frage, welchen Raum einem die notgedrungen neue "Heimat" bietet, jemand zu sein, der mehr ist als "nur" jemand, der eine Fluchtgeschichte hat.
Olga Grjasnowa: Es geht um die Syrische Revolution und den Augenblick, in dem ein Zustand unerträglich wird. Es geht aber auch um Deutschland, das Mantra "Nie wieder!" und dessen Scheinheiligkeit.
Der Text lenkt den Blick zurück bis auf die Anfänge der Syrischen Revolution ab dem Jahr 2011. Die handelnden Figuren sind fiktiv, die Geschehnisse in großen Teilen nicht – mit welcher Textgattung haben wir es hier zu tun, mit historischer Literatur?
Olga Grjasnowa: Der Stoff ist keineswegs historisch, es gibt eigentlich gar keinen historischen Abstand. Dieses Buch ist explizit als ein Roman entstanden, Literatur vermag andere Antworten zu geben als der Journalismus. Der Roman arbeitet wie jeder andere literarische Text mit Kniffen, ein paar Geheimnissen und ganz viel Handwerk. Dennoch war es mir wichtig, einen Roman zu schreiben, der auf einem soliden Grund steht. Alle Ereignisse sind nachrecherchiert, sie hätten genauso passieren können oder sind es sogar. Nur die Struktur, die Figuren und die Perspektive sind literarisch. Zudem lehnt sich der Roman an die literarische Tradition der deutschen Exilliteratur an. Es gibt viele Szenen, die direkt auf Erich Maria Remarque oder Anna Seghers verweisen.
Laura, Sie hatten sich damals auf der Suche nach einem Stoff sehr dezidiert für "Gott ist nicht schüchtern“ entschieden. Was gab den Ausschlag?
Laura Linnenbaum: Ich war beeindruckt von der präzisen Sprache, mit der Olga das alles erzählt, und gleichzeitig permanent konfrontiert mit der Frage: Wie würde ich mich verhalten? Schließlich ist es ein vertrauter Alltag, in dem wir die Figuren kennenlernen, "voller Zukunft und Ambitionen", zwischen gemeinsamem Kochen, Stress und Spaß auf der Arbeit, romantischen Dates und anstrengenden Familien feiern. Und es ist ein Alltag, in dem auf einmal ein Scharfschütze auf Amals Balkon steht und fragt, ob er und seine Kollegen zwischendurch die Toilette benutzen können. Es ist dieser Alltag, in den sich unaufhaltsam die Repressionen des Regimes, die Notwendigkeit zu demonstrieren, die Konsequenzen dieses Aufbegehrens und schließlich Bomben und Bürgerkrieg hineindrängen. Bis nichts mehr übrig bleibt. Würde ich mich unter diesen Bedingungen ebenfalls trauen, für das einzustehen, was ich für richtig empfinde? Mit aller Konsequenz?
Amal und Hammoudi sind Figuren aus der gehobenen Mittelschicht, Hammoudi hat in Paris Medizin studiert, Amal und Youssef studieren an dem renommierten Institut for Dramatic Arts in Damaskus. Worin liegt der Reiz beziehungsweise das Interesse, diese Geschichte aus deren Perspektive zu erzählen?
Olga Grjasnowa: Für mich war es vor allem eine Frage der Recherche. Da ich keinen historischen Abstand habe, musste ich vor allem Geschehnisse beschreiben, die auf Fakten beruhen. Ich habe viel mit Ärzten, die in einem Untergrundkrankenhaus gearbeitet haben, gesprochen, mir Fotos und Videoaufnahmen angeschaut und es gab viele unabhängige Zeugen, die ihre Geschichten bestätigen konnten. Ich hatte das Glück, viele Menschen kennenzulernen, die an diesem Institut in Damaskus studiert hatten. Sie wurden sehr oft von russischen Professorinnen und Professoren unterrichtet. Ich habe selber in Moskau dramatisches Schreiben studiert und kenne die Methode und das Kurrikulum sehr gut. Dadurch – und durch die russische Mutter – kam ich meiner Hauptfigur nahe.
Laura Linnenbaum: Ich habe seither viel über Formen des kreativen Widerstands gelesen, der auch, aber nicht nur in Syrien eine Rolle spielt. Youssef und Amal beispielsweise machen gemeinsam eine Aktion zwischen Kunst und Protest – mit Unmengen von Tischtennisbällen vor dem Parlament. Eine Aktion, die es in ähnlicher Form wirklich gegeben hat. Ich halte friedlichen, kreativen Protest für ein Potential, weil man vermeidet, sich auf die Waffen des Gegners einzulassen oder auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren, ein Vorgang, bei dem man meist nur verlieren kann – auch was den Rückhalt in der Bevölkerung anbelangt. Im Stück wird dieser Widerstand von der Position der Generäle und auch des Vaters diffamiert als "Kindergarten", als romantische Naivität. Mag sein. Über Amals Freundin Luna beispielsweise, die als Figur im Stück nicht mehr vorkommt, wird im Roman gesagt, dass sie zu den ersten Demonstrationen geht wie zu einem „Flirt mit der Revolution“. Nichtsdestotrotz haben diese Proteste viel auszulösen vermocht. Dieses Milieu hat uns natürlich auch angesprochen, weil es so viele anfängliche Überschneidungen zwischen Amals und unserer Lebenswelt gibt. Sicher nicht diese Form der Upperclass, in welcher sich Amal bewegt, aber der ganze sogenannte "Bohemian Lifestyle", die politischen Diskussionen in Cafés, die Filmpremieren …
Amals Vater leitet eine Baufirma und kam durch undurchsichtige Geschäfte mit dem Regime zu sehr viel Geld. Zur bestandenen Aufnahmeprüfung an das Institut für Dramatische Kunst schenkte er seiner Tochter eine geräumige Wohnung im Zentrum von Damaskus.
Laura Linnenbaum: Amal gehört zu einer Gesellschaftsschicht, in der sie auch weiterhin wegschauen und von gewissen Privilegien profitieren könnte, wie ihr Vater. Er hat sich arrangiert mit dem Regime und glaubt aufgrund früherer Erfahrungen nicht mehr an Veränderung. Für Amal hat selbst die Teilnahme an den ersten Protesten zunächst noch eine abenteuerliche Anmutung. Youssef auf der anderen Seite hat schon als Kind Erfahrungen mit der zerstörerischen Kraft des Regimes gemacht. Im Unterschied zu Amal fehlt ihm der Rückhalt eines zahlungskräftigen Vaters, mit dem er unter Umständen Gefängnis und Folter umgehen könnte. Dass ihm die Ereignisse am Ende sogar den Glauben an die Richtigkeit der Revolution, der Idee rauben, finde ich besonders bitter. Hammoudi kommt aus ähnlich gesicherten Verhältnissen wie Amal. Zu Beginn ist es ein Zufall, Willkür oder eine bürokratische Absurdität, die ihn in eine Situation zwingt, vor der er Jahre zuvor bereits geflohen ist. Dann entscheidet er sich zunächst mehr aus selbstbezogenen als politischen Gründen für die Arbeit als Arzt im Untergrund – er leistet zwar schier Unmenschliches, hat aber nichts Heldenhaftes an sich. Keine der Figuren hat etwas heldisch Auftrumpfendes, finde ich. "Wir sind ganz normale Leute“, sagt Hammoudi an einer Stelle. Der ganze Text changiert permanent zwischen dieser Atmosphäre von Alltäglichkeit, einer fast lapidaren Normalität, lauter vertrautem menschlich- allzu menschlichem Verhalten und schier unerträglichen Extremsituationen.
Seit der Schließung der Theater im März und dem damit einhergehenden Abbruch der Probenarbeit aufgrund von Sars-CoV-2 wird des Öfteren die Frage gestellt, ob sich durch Corona der Blick der Künstler und Künstlerinnen auf das, was sie tun und wie sie es tun, verändert hat und wenn ja inwiefern. Hat Corona für Sie etwas verändert?
Olga Grjasnowa: Ich fürchte, es hat sich nichts verändert, außer, dass noch immer sehr wenige Veranstaltungen stattfinden und Honorare extrem gesenkt wurden – immer mit dem Verweis auf Corona. Die Pandemie zeigte lediglich, dass Kunst für die Politik an einer der letzten Stellen kommt und alles andere als systemrelevant ist.
Laura Linnenbaum: In Bezug auf Gott ist nicht schüchtern? Nein. Die Gründe, die für mich vor Corona für diesen Stoff sprachen, sind nicht verschwunden. In Ländern wie Venezuela, Brasilien, Ungarn oder Hongkong haben autokratische Herrscher die Chance ergriffen, unter dem Schutzmantel von Sicherheitsmaßnahmen ihre Befugnisse noch mehr auszuweiten. Der Wahlbetrug in Belarus, der Widerstand großer Teile der Bevölkerung. Die Frage, warum wir – Politik und Zivilgesellschaft – es nicht schaffen, unserer humanitären Verantwortung nachzukommen, während andere ihr Leben riskieren. Nicht zuletzt erinnert Gott ist nicht schüchtern daran, dass hinter den Menschen, bei denen wir es zulassen, dass sie in Lagern im Kampf mit kafkaesken Mühlen der Bürokratie verharren und auf ihre Aufenthaltserlaubnis warten müssen, Geschichten stecken, die unsere eigenen sein könnten.
Olga, als ich Sie fragte, ob Sie einen Text für dieses Programmheft schreiben möchten, haben Sie mir stattdessen einen Text von Natalia Ginzburg vorgeschlagen: "Des Menschen Sohn.“ Ginzburg floh mit ihrem Mann vor dem faschistischen Mussolini-Regime. "Des Menschen Sohn" ist eine von elf Erzählungen aus den Jahren 1945 bis 1961, die 1962 unter dem Titel "Die kleinen Tugenden" erschienen. Was empfiehlt diesen Text für ein Programmheft zu einem Stück über die Syrische Revolution?
Olga Grjasnowa: Erstaunlicherweise ist in diesem Text bereits alles gesagt, wie es ja grundsätzlich so oft der Fall ist. Die Erfahrungen der Flucht sind nicht neu. Die Erfahrungen der Zurückweisung, der Hilfsverweigerung sind nicht neu. Noch nicht einmal im Mittelmeer, nur, dass es in den 30er- und 40er-Jahren vor allem Flüchtlinge aus Deutschland waren, denen nicht geholfen wurde, die an den Grenzen abgewiesen wurden. Neu ist lediglich der Zynismus und die Verunglimpfung der Helfenden. In Anbetracht der deutschen Geschichte ist es erstaunlich. Oder nur konsequent.
Die Fragen stellte Sibylle Baschung.