Drei Frauen, drei Generationen: Carol – welche scheinbar das perfekte Kleinfamilienleben führt – begeht Suizid, als ihre Tochter Anna 16 Jahre alt ist. Anna, die später in einer Kommune lebt und der Drogensucht verfällt, begeht kurz nach der Geburt ihrer Tochter Bonnie Suizid. Bonnie hingegen versucht vehement, sich von diesem unheilvollen Familienmuster zu befreien. Sie wird Ärztin und stellt der genetisch vererbbaren Depression und Selbstmordgefährdung radikale Selbstbestimmung entgegen. Die Mutterrolle und die Fortpflanzung dieses scheinbar unausweichlichen Erbes verweigert sie und verkörpert damit die Möglichkeit der Befreiung von der Wucht generationsübergreifender Traumata. 

Alice Birch hat eine filigrane Partitur geschrieben, in welcher viel Unausgesprochenes im Raum steht. Die drei Frauenleben werden zeitgleich erzählt, mehrstimmig wie eine Fuge, denn ihre Biografien sind durch die von Selbsttötungen geprägte Familiengeschichte über Generationen hinweg miteinander verwoben. Sie sind auch verbunden durch sichtbare Spuren im Haus der Familie, die immer weiter vererbt und gelesen werden. In allen drei Lebensläufen spielt auf unterschiedliche Weise das bis heute existierende Tabu einer „nicht funktionierenden“ Mutter eine Rolle: das trifft auf Mütter, die sich das Leben nehmen, wahrend ihr Kind noch auf sie angewiesen ist ebenso zu wie auf junge Frauen, welche die Mutterschaft durch Sterilisation ausschließen. 

Anatomie bedeutet sinngemäß dem Erkenntnisgewinn dienende Zergliederung durch Schnei- den. Birch strukturiert ihr Stück in verwandter Form: sie seziert die Familiengeschichte in drei Zeitausschnitte und baut die Fragmente wieder zusammen durch das simultane Erzählen der unterschiedlichen Generationen. Sichtbar wird dadurch mehr als die Summe der einzelnen Teile: eine durchgehende Sehnsucht der Frauen nach Autonomie und ein dem zuwider stehender biologistischer Umgang einer Gesellschaft mit dem weiblichen Körper. Der Wunsch nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper kann in letzter Konsequenz auch die Entscheidung über den eigenen Tod bedeuten. 

Nanouk Leopold ist eine der bekanntesten niederländischen Filmemacherinnen. Ihre Filme wurden auf verschiedenen Filmfestivals ausgezeichnet, u.a. auf der Berlinale und den Internationalen Filmfestspielen Cannes. Zuletzt inszenierte Nanouk Leopold am Internationaal Theater Amsterdam und an der Dutch National Opera. Anatomie eines Suizids ist ihr Debut im deutschsprachigen Theater. • 

Amely Joana Haag 

MIT Judith Engel, Claude De Demo, Sina Martens,
Ingo Hülsmann, Oliver Kraushaar, Gerrit Jansen, Martin Rentzsch Altine Emini, Justine del Corte, Dana Herfurth, 

REGIE & VIDEO-DESIGN Nanouk Leopold
BÜHNE Elsje de Bruijn KOSTÜME Wojciech Dziedzic
MUSIK Donato Wharton 

CO-VIDEO-DESIGN & KAMERA Bahadir Hamdemir 

LICHT Arnaud Poumarat 

DRAMATURGIE Amely Joana Haag 

Mit freundlicher Unterstützung durch die Freunde des Berliner Ensemble