Tut was! - Hommage an Margot Friedländer

Mit einer Gedenkveranstaltung erinnerten Freund:innen, Weggefährt:innen und Künstler:innen am 12. Juli an Margot Friedländer. Michel Friedman hielt in diesem Rahmen eine ergreifende Rede, die die mahnenden Worte Friedländers aufgriff. Die Rede finden Sie hier zum Nachlesen und Nachhören. 

Michel Friedman | 17.07.25
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Es sind Kinder, jüdische Kinder. Sie wachsen unter Polizeischutz auf. Jeden Tag, wenn sie in die Schule gehen, sind die Polizisten wenigstens da - mit Maschinenpistolen. Jeden Tag gehen diese Kinder, jüdische Kinder, in die Schule. Sie wollen singen, sie wollen lachen, sie wollen Kinder sein und gehen in die Schule. Und ob sie es bewusst wahrnehmen, wenn sie in der Kita sind, im Kindergarten, in der Schule: Etwas stimmt nicht. Auch für meine Kinder. Diese wunderbaren Polizisten wären doch nicht da, wenn es nicht Menschen gäbe, die sie hassen würden. Die sie umbringen wollen. Was haben diese Kinder Menschen angetan?  

Der Hass ist hungrig. Und der Hass wird nicht satt.  

Wieder eine Generation Kinder und wieder eine Generation Kinder.

 

Margot war auch ein Kind. Aber wir sind doch heute jetzt wir. Wir sehen das doch. Und wenn ich das sage, dann spreche ich für alle Kinder. Kinder, die ein Leben vor sich haben, wie Margot ein Leben vor sich hatte. Damals. Oder meine Mutter, Jahrgang 1923 - ein Jahr jünger - und sie überlebten den Hass. Er hat sie nicht bekommen. Er hat sie nicht bekommen und sie lebten, wie die, die überlebt haben, irgendwie und doch nicht mehr. Und einige davon kamen in dieses Land, das Land der Mörder, in dem die Mörder nicht im Gefängnis waren. Aber sie kamen, warum? Jedes Schicksal für sich kam und hasste nicht. Man baute Leben auf und man baut Leben auch heute wieder auf und auch heute gibt es jüdisches Leben - 150.000 Menschen, die jüdischen Glaubens sind - und Margot war da seit über 20 Jahren.  

Wir haben sie alle spät entdeckt: Margot Friedländer. Warum eigentlich? Warum haben wir sie alle so spät entdeckt und die meisten nicht, wie meine Mutter und viele andere, die hier lebten, man hätte sie nur sehen müssen. Man hätte sie nur an die Hand nehmen müssen, man hätte ihnen etwas Liebes sagen können, oder? Die, die um sie herum lebten, die Nachbarn und diejenigen in den Straßen, in denen sie einkauften, sie wussten, wer die Überlebenden sind. Margot ging wie nicht wenige den Weg und folgte ihrem Prinzip “Seid Menschen", auch sie selber wusste, sie soll Mensch sein...- was?  Mensch sein müssen? Können? Dürfen? Sie sprach mit Kindern, mit Jugendlichen, lange Jahre und niemand sah es außer den Kindern, den Jugendlichen und den wenigen Lehrern und Lehrerinnen, die anriefen und sagten: "Wir wollen Menschen, die zu den Kindern sprechen." Und dann sahen wir sie plötzlich alle. Und wir feierten sie und wir umarmten sie und machten Selfies mit ihr wie mit ein paar anderen auch. Heute.

 

In den letzten Monaten sprach sie anders, aber wir hörten nicht genau zu, sondern wollten immer nur hören: "Seid Menschen". Wollten immer nur hören: "Es gibt kein jüdisches Blut, es gibt kein christliches Blut, es gibt kein muslimisches Blut", ich zitiere frei weiter, "es gibt kein queeres Blut, es gibt ein schwarzes Blut, es gibt nur Blut." Aber sie sagte andere Dinge wie "Die Demokratie schwankt. Ich bin besorgt. So hat es damals angefangen. Die AfD ist brandgefährlich. Ich bin entsetzt. Die Demokratie ist zu leise. So hat es damals angefangen."  

Ich will es noch mal vorlesen, damit wir Margot hören: "Die Demokratie schwankt. Ich bin besorgt. So hat es damals angefangen. Die AfD ist brandgefährlich. Ich bin entsetzt. Die Demokratie ist zu leise. So hat es damals auch angefangen." Sie hat es versucht, sie hat die Frage für sich jeden Tag, in dem sie aufgetreten ist, gestellt: Können wir uns aufeinander verlassen?

Doch meine Mutter ist, als sie dann hier lebte, dauernd, dauernd herumgelaufen und hat mit Menschen gesprochen und ich erinnere mich, sie hat der Apothekerin einen Kuchen gebracht, der Friseurin eine Zeitschrift, den Lebensmittelhändler, ein gutes Wort, jeden Tag irgendwelche Geschenke gemacht. Und ich erinnere mich, wie mein Vater sie irgendwann fragte: "Glaubst du, es wird etwas helfen, diesmal?"  

Margot, als sie sagte "Seid Menschen", meinte, dass dahinter sehr viel mehr Antwort und Arbeit steckt als Selfies zu machen und sie zu adorieren. Das tat ihr gut, ja, wem nicht?, umarmt zu werden, respektiert zu werden. Nein, nein, sie meinte arbeiten. "Seid Menschen" ist eine aktive Aufforderung. Dass zum Beispiel diese Kinder nicht erleben müssen, dass Polizei vor ihren Schulen steht, oder welches Kind auch immer oder welcher Mensch auch immer Angst haben muss, so zu sein, wie er oder sie ist - keine Angst mehr haben müssen, und dass sie, diese Kinder, sich auf uns verlassen können, dass ich mich auf sie und sie sich auf mich verlassen können, wenn irgendein Mensch wieder bestimmen will, ob ein Mensch ein Mensch sein darf. Und es bestimmen wieder Menschen, wie ein Mensch sein darf.

 

Da saß dann Margot hier oder sie saß hier. Und alle dachten an dieses Wort "Seid Menschen".  

Im Judentum heißt es: „Solange Menschen an dich denken, bist du nicht endgültig tot“. Ich hoffe, es wird lange dauern, dass Menschen an sie denken. Also erzählen wir es weiter. Erzählen Sie, dass sie gesagt hat: "Die Demokratie schwankt" und im Jahre 2025 gesagt hat: "So hat das damals angefangen". Und fragen wir uns und ich frage mich auch: stimmt das? Und wenn es stimmt, warum sind wir nicht Menschen? Warum sind wir so beschäftigt mit uns? Warum denken wir nur an heute und morgen und können uns nicht vorstellen: Wenn es so angefangen hat, dann kann es wieder so zu Ende gehen. Damit meine ich nicht Auschwitz. Damit meine ich den Alltag, der immer schlechter wird, weil immer mehr Menschen Angst darum haben, so sein zu dürfen, wie sie sind. Einfach wie wir sein wollen. Und dafür braucht es Freiheit. Respekt. Zuwendung. Und: Etwas tun, jeden Tag. Die anderen tun - sowieso.  

Der Hass ist hungrig und er wird nie mehr satt.  

Wenn ich an das Lächeln von Margot denke - und ich habe sie oft lächeln sehen - da habe ich sie ganz unterschiedlich lächeln sehen. Manchmal - und dann wurde es mir so warm um mein Herz - da lächelte sie, weil sie einfach glücklich war. Weil es stimmte. Manchmal, da lächerte sie zwar, aber mit viel, viel Besorgnis. Und manchmal, da dachte ich, sie lächelt sehr traurig. Es war nicht immer dasselbe Lächeln, wenn man hingeschaut hätte.  

Wir sind alle zusammengekommen, weil wir einem Menschen die Ehre erweisen. Aber wenn wir Margot die Ehre erweisen wollen, dann müssen wir etwas tun. Das ist das Einzige, was sie von uns erwartet hat: Tut was! 

 

getan. Oder es war uns nicht wichtig oder es war es uns egal. Diese Kinder sind Menschen. Wir haben nicht noch mal 30 Jahre. Wir alle haben nicht mehr 30 Jahre. Ich werde bald 70. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich es versuchen kann.  

Es wäre doch so schade.  

Es wäre doch so schade. Ich möchte Sie nur um eins zum Schluss bitten: Schließen Sie Ihre Augen eine Minute. Denken Sie an diese Frau - im Schweigen. Und bitte sorgen Sie dafür, sorgen wir alle dafür, dass das Leben und nicht der Hass das letzte Wort hat.