Seit September dieses Jahres gibt es zusätzlich zu den Führungen hinter den Kulissen auch eine historische Führung, die sich auf die Spuren Helene Weigels und Bertolt Brechts begibt. Ich war dabei und im Laufe der Führung sind mir verschiedene Fragen in den Kopf gekommen, teils spontan, teils solche, an die ich mich noch aus Uni Seminaren zu Archivierung und Quellenkritik erinnere.
Dass man sich im Nachhinein mit dem Leben einer Person beschäftigt, ist ja eigentlich nichts Neues. Bücher, Filme, Museen, you name it. Trotzdem finde ich den Gedanken an eine solche detaillierte Auseinandersetzung mit dem Leben einer Person irgendwie absurd. Diese Einschätzung hat sich noch verstärkt, als ich mir die Quellen der Führung angeguckt habe und sah, wie viele verschiedene Menschen sich mit Leben und Werk dieser zwei Personen auseinandergesetzt haben. Darüber habe ich auch mit Mona Wahba von der Abteilung EINBLICKE gesprochen, die mir ein paar Infos zur Recherchearbeit hinter der Führung geben konnte.
Und was sind das für Spuren, auf denen wir uns bewegen? Im ganzen Haus zeichnen sich Weigel und Brecht ab. Hier prangt ein Foto von Helene Weigel über der Treppe zum ersten Rang, dort hängen Gedichte von Bertolt Brecht im Foyer, beiden ist ein jeweils eigenes Zimmer gewidmet. Und die Quellenlage ist nicht weniger breit: Biografien, Erzählungen, Briefwechsel (hier gibt es ein ganzes Buch), eine Chronik über Brechts Leben. Aus dieser Menge zu filtern, um alles in eine Stunde Redezeit zu verpacken, stelle ich mir schwierig vor. Mona sagt dazu, dass es vor allem darum ging, einen Überblick über das Leben und Wirken der beiden zu geben. Dass nicht alle Stationen ihres Lebens hineinfließen können, versteht sich von selbst. Bei Anekdoten, mit denen die Führung angereichert ist, wurde immer versucht, etwas Beispielhaftes und Greifbares zu finden, das einem die Figuren idealerweise näherbringt. Außerdem verknüpft das Team die Bestandteile, die mit dem Haus zusammenhängen und versucht auch, Helene Weigel und der langen Zeit, die sie am Haus war und gewirkt hat, gerecht zu werden.
Ein gewisses Ungleichgewicht in der Quellenlage wird sehr schnell sichtbar. Brecht hat gefühlt alles, was er so machte und dachte dokumentiert, es gibt eine ganze Chronik und mehrere Archive zu seinem Leben. Anders sieht es bei Helene Weigel aus, die trotz ihrer hohen Position im öffentlichen Leben als Schauspielerin und Intendantin des Berliner Ensembles vor allem über ihr schauspielerisches Wirken in Erinnerung bleiben wollte und kaum etwas selbst aufgeschrieben hat. Diese Info führt für mich dazu, dass beispielsweise die Beziehung der beiden in einem anderen Licht dasteht. Denn wie kann man heute ein umfassendes Bild von einer Beziehung mit all ihren Dynamiken haben, wenn dieses Bild hauptsächlich auf seiner Perspektive und Fremdeinschätzungen basiert? Wenn ihre Einschätzung fast vollständig fehlt, kann es leicht zu Verzerrungen kommen. Wenn von Einschätzungen Dritter auf ihre Gefühlswelt geschlossen wird, geht gezwungenermaßen ein Teil der Geschichte verloren. Andererseits gibt es wohl auch keinen anderen Weg – die Alternative wäre, ihre Seite der Geschichte vollkommen rauszulassen, was die Erzählung einer Beziehung erheblich erschweren würde. Der Gedanke, dass eine Beziehung so offen liegt und ‚dokumentiert‘ ist, irritiert mich in gewisser Weise, obwohl mir ebenso bewusst ist, dass ich heute in einer Welt lebe, in der das nicht gerade ungewöhnlich ist (jaja, Social Media, Gen Z, …). Der Reichtum an Perspektiven, Einschätzungen und Versionen der Beziehung und ihrer Geschichte wäre zu heutiger Zeit wohl noch um ein Vielfaches größer und die Unterscheidung nach Wahrheitsgehalt kein Stück einfacher. Die Frage, die in diesem Zusammenhang für mich zurückbleibt, ist, ob das Ungleichgewicht der Quellenlage, die von den beiden zurückbleibt, durch den Perspektivenreichtum gemindert werden kann, der sich durch Erzählungen Dritter ergibt.
Von einigen Geschichten gibt es ungefähr genauso viele Versionen wie Personen, die man fragt und Quellen, die man liest. Mit diesem Zusatz an Perspektiven wird die Geschichte vielleicht breiter, aber ob man damit so viel näher an einer Wahrheit ist, bleibt anzuzweifeln. Vielleicht liegt die Wahrheit aber auch hier, wie so oft, zwischen den einzelnen Versionen. Als ich mit Mona darüber gesprochen habe, sagte sie, je mehr man lese, desto weniger wisse man, was die Bedeutung einer einzelnen Erzählung im Gesamtkontext sei. Der Umgang mit dieser Schwierigkeit variiert, je nach Thema. Bei Brechts Übernahme des Hauses beispielsweise sei die Beziehung von Brecht zur DDR und die Vorgänge in diesem Zusammenhang so komplex, dass man teils keine sicheren Aussagen tätigen könne und es daher bei den verschiedenen Versionen belässt. Beim Beispiel von Brechts Beziehung zu verschiedenen Frauen sei ihnen in der Recherche wichtig gewesen, sich über die verschiedenen Perspektiven, die es in dem Kontext gibt, bewusst zu sein und sie mit einzubeziehen. Letztlich leitet wohl in gewisser Weise auch immer die eigene Sicht etwas die Gewichtung der Quellen, wobei immer darauf geachtet wurde, keine wertende Position einzunehmen. Doch auch hier kann es keine Sicherheit über den Wahrheitsgehalt einer Version der Geschichte geben.
Vielleicht ist es aber auch gut so, dass wir heute nicht sicher sagen können, welche Version stimmt, und vielleicht war es nie die Intention, dass wir heute so genau über das Leben der beiden Bescheid wissen. Vielleicht war das Nicht-Aufschreiben von Weigel eine Art Schutz der eigenen Erzählung, der Privatsphäre. Vielleicht dachte man damals aber auch, dass es kein Interesse daran geben würde. Und dann gibt es heute eine Führung, einen Raum und bald einen Film zum Leben von Weigel, wodurch das Gegenteil bewiesen wird; Man möchte sie und ihre Rolle im Haus sichtbarer machen und ihre Rolle im Berliner Ensemble würdigen.
Auf die Frage, welchen Impuls das Einblicke-Team gerne mit der Führung geben würde, sagt Mona, man wolle die Leute neugierig machen auf diese beiden für das Haus so wichtigen Personen, auf ihr Wirken und ihr Leben. Und das Interesse wecken für Personen, Themen und Entwicklungen, mit denen man sich bisher vielleicht noch nicht so viel beschäftigt hat oder die bisher noch nicht so viel Raum bekommen haben.
Die Aneinanderreihung von Vielleichts in diesem Text zeigt möglicherweise auch schon eine Verringerung der eigenen Hemmschwelle zur Interpretation, wenn man weiß, dass es verschiedene Versionen von einer Geschichte gibt und nicht eindeutig von der einen Richtigen ausgegangen werden kann (falls man davon überhaupt jemals in irgendeinem Fall ausgehen kann).
Aber vielleicht ist das ja auch das Schöne daran und die Natur der Spuren. Dass dieser gewisse Freiraum für Interpretation besteht, der sich öffnet, wenn man einen Teil einer Geschichte kennt. Denn das sind Spuren ja letztendlich: Ein Teil von etwas, dessen Gesamtheit man nicht erschließen kann. Und welcher Ort würde sich besser für diese Interpretation, für die wiederholte und sich wandelnde Erzählung von Geschichten eignen als das Theater?