Blühende Landschaften

Ein Thementag über die Lage Ostdeutschlands und 30 Jahre Nachwendezeit

Kuratiert von Johannes Nölting 

"Auferstanden aus Ruinen" war der Titel der Nationalhymne eines Staates, der heute nicht mehr existiert und auf dessen ehemaligen Staatgebiet jene Ruinen nun zurückgekehrt sind. 30 Jahre nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands zeichnet sich die Grenze immer noch deutlich ab – nunmehr auf statistischen Landkarten sobald man nach Arbeitslosigkeit, Einkommen oder Politikverdrossenheit fragt. Die Wunden sind tief und der verhängnisvolle Unterschied, der noch von vielen und auf beiden Seiten hochgehalten wird, spaltet mehr, als dass er emanzipiert. Reduziert auf eine Erzählung, die sich im Spagat zwischen diktatorischem Überwachungsstaat und der friedlichen Revolution aus Sehnsucht nach dem Westen verliert, wird die Komplexität und Uneindeutigkeit der Lebensgeschichte von 16 Millionen Menschen nur schwerlich gerecht - es gibt sie nicht, die Ostdeutschen.
Die versprochenen "blühenden Landschaften" sind nunmehr gesäumt von Industriebrachen, Landflucht und Resignation, wachsender Popularität von Rechtsextremismus und gegenseitiger Schuldzuweisung. Zugleich gehören ostdeutsche Metropolen wie Berlin, Leipzig und Halle zu den am schnellsten wachsenden Universitätsstädten Der Ursprung und die Geschichte dieser strukturellen wie gesellschaftlichen Spaltung liegen derweil in den wenig aufgearbeiteten 90er Jahren, dem "schweigenden Jahrzehnt". Nur im Blick zurück lassen sich die Herausforderungen aber auch Chancen erkennen, die sich uns heute stellen. Was haben die letzten dreißig Jahre mit den Menschen im Osten Deutschlands gemacht? Von wem ist überhaupt die Rede, wenn von den Ostdeutschen gesprochen wird? Wird damit nicht vor allem Eindeutigkeit hergestellt, wo Widersprüche herrschen? Welche sind dezidiert ostdeutsche Erfahrungen? Welche die Geschichten, die bis heute kaum jemand hören will? Wie heterogen ist und war der Osten? Was kann ganz Deutschland von Ostdeutschland lernen?
Die ostdeutsche Theatertradition z.B. ist auch heute noch stilprägend: Ästhetisch wie inhaltlich scheint es fast undenkbar, sich eine Begriff von politischem Theaterschaffen zu machen, ohne sich auf Brecht, Müller, Schleef oder Castorf zu beziehen. Doch was macht diese spezifische Theatertradition aus? Warum ist sie, im Gegensatz zu vielem anderen aus der Kultur- und Ideengeschichte der DDR, nicht vergessen?
Der Analyse des spezifisch Ostdeutschen, besonders auch den Erfahrungen der 90er Jahre widmete sich daher der Thementag "Blühende Landschaften". Auf der Suche nach den Spuren, die bleiben und den Erzählungen, die ganze Generationen prägen, bemühte sich der Thementag in Podien und Gesprächsrunden um einen vielseitigen Blick auf den Osten - da nur im Verstehen der spezifischen strukturellen und historischen Lage Ostdeutschlands der Schlüssel für eine gesamtdeutsche Zukunft zu finden ist.

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Vor der Wahl

Unter dem Titel "Vor der Wahl" diskutierten zum Auftakt des Themenschwerpunkts "Blühende Landschaften" am 27. August 2019 über die Landtagswahlen im Herbst 2019 in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Hier finden Sie einen Mitschnitt des Gesprächs aus dem Großen Salon.
Wird die Zukunft der Bundesrepublik mit den Landtagswahlen im Herbst 2019 in Brandenburg, Thüringen und Sachsen entschieden? Sind im Osten Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Träger einer umfassenden Systemkritik derer, die sich von den etablierten Parteien nicht repräsentiert fühlen? Ist das in Westdeutschland anders? Wie konnte es zu dieser Krise der Repräsentation kommen? Sind Ostdeutsche auch Migranten? Welche Rolle spielen Anerkennung und Wertschätzung fremder Erfahrungen beim Ankommen in einem anderen System? Was kann der Westen vom Osten lernen? Inwiefern sind z.B. die Prozesse gesellschaftlicher Fragmentierung im Osten Deutschland symptomatisch für die ganze Bundesrepublik?

MIT Christian Bangel (Journalist), Naika Foroutan (Soziologin)
MODERATION Heike Kleffner (Journalistin)

CHRISTIAN BANGEL wurde 1979 in Frankfurt (Oder) geboren. Während seines Geschichtsstudiums gründete er das Netzmagazin Zuender für Zeit Online. Zusammen mit Markus Kavka und anderen entwickelte er das Anti-Nazi-Blog Störungsmelder, das 2008 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Ab 2010 war er Nachrichtenredakteur bei Zeit Online, seit 2012 ist er dort Chef vom Dienst. 2017 erschien sein erster Roman Oder Florida.

NAIKA FOROUTAN, 1971 in Boppard geboren, ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Zu den Schwerpunkten ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit gehören u.a. die Themen Migration, Integration und postmigrantische Gesellschaften, Transformation von Einwanderungsländern, Islam- und Muslimbilder in Deutschland sowie Identität und Hybridität. Für aufsehen sorgte zuletzt ihre Studie zu Ost-Migrantischen Analogien.

Vier Generationen Ost

Oft hört man, dass es so etwas wie eine ostdeutsche Identität gar nicht gebe, dass sie reine Diskurs-Konstruktion sei und wir nur aufhören müssen darüber zu reden, um uns endlich in der Wiedervereinigung zu finden. Unbenommen bleibt jedoch, dass es sowohl Fremdzuschreibungen für den "Ossi", als auch spezifisch ostdeutsche Erfahrungen gibt. Neben dem offiziellen Diskurs spielt dabei auch der intergenerationelle Austausch der mittlerweile vier Generationen Ostdeutschlands eine große Rolle. Wie unterscheidet sich die Sicht auf den Osten derjenigen, die die Gründungszeit der DDR miterlebten, von denen, die gar keine konkrete DDR-Erfahrung mehr haben? Wie die Sicht auf die sogenannte "Wende" von denen, die aus ihrem bereits eingerichteten Leben gerissen wurden, von denen, deren Erwachsenleben zeitlich erst mit der "Wende" begann? Diskutant*innen aus vier verschiedenen Generationen versuchten, gemeinsam herauszufinden, was es heißen könnte, ostdeutsch zu sein.

MIT Tilo Jung (Journalist), Annette Simon (Psychologin), Sabine Rennefanz (Journalistin), Gerd Dietrich (Historiker)
MODERATION Patrice Poutrus (Historiker)

TILO JUNG, Journalist und bekannt durch sein Format "Jung und Naiv“, wurde 1985 in Mecklenburg-Vorpommern geboren und war somit die jüngste Generation Ost bei diesem Panel. Als Kind hat er nichts vom Mauerfall mitbekommen, seine Familie war durch das Leben in der DDR politisch abgestumpft und gingen nur durch polizeiliche Beihilfe zum Wählen. Heute geht Jungs Familie gar nicht mehr wählen, Jung ist mit seinem politischen Interesse und Engagement somit das "schwarze Schaf“ der Familie.

SABINE RENNEFANZ, Autorin und Journalistin, wurde 1974 in Brandenburg geboren und erlebte die Zeit in der DDR als junge Heranwachsende. Nach der Wende in Westdeutschland herrschte bei Rennefanz Verwirrung: "Wir sind doch jetzt alle Deutsche!“ Doch für sie und viele weitere ostdeutschen Studierende bedeutete die ostdeutsche Identität weiterhin Schamgefühl und Verleugnung. Doch wenigstens hat sich der Diskurs für Rennefanz geändert, früher sei er viel vorwurfsvoller gewesen sein, das sei heute besser. Trotzdem fehlt noch viel Wissen über die ehemalige DDR, es sei mehr Wissen über Reiseziele wie Thailand da als über Ostdeutschland, so Rennefanz. Heute beschäftigt sie sich vermehrt in ihrer Arbeit als Journalistin und Autorin mit der Thematik.

ANNETTE SIMON, Psychologin, wurde 1952 geboren und studierte während der DDR Psychologie an der Humboldt-Universität Berlin Psychologie, um danach von 1975 bis 1991 in einer psychiatrischen Klinik in Ostberlin zu arbeiten. In dieser Einrichtung war die Auseinandersetzung mit der DDR-Realität an der Tagesordnung, worauf sich Simon auch einer oppositionellen Gruppe anschloss, um mit Gleichgesinnten über das damalige Leben in Ostdeutschland zu reden. Nach der Wende setzte sie sich mit ihrer eigenen Psychotherapieraxis nieder. Auch heute noch denkt Simon über die so genannte ostdeutsche Identität nach und verfasste mehrere Publikationen zu der Thematik.

GERD DIETRICH, Historiker, kam 1945 in Rudolstadt zur Welt und ist die älteste Generation Ost bei dieser Podiumsdiskussion. Dietrich bekam die negativen Seiten der DDR vor allem im Bildungsbereich zu spüren. Als junger Student hat er mitbekommen, wie die Bildung eingeschränkt wurde, was zu viel Frustration in seiner Generation führte. Nach der Wende arbeitete er als Hochschullehrer an der Humboldt-Universität in Berlin.

 

Leseempfehlung zum Thema: 

Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, 3 Bd., Vandenhoeck & Ruprecht 2018.

Sabine Rennefanz: Eisenkinder– Die stille Wut der Wendegeneration, Luchterhand 2011.

Annette Simon: "Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin": Versuch über ostdeutsche Identitäten, Psychosozialverlag 1995.

Jana Hensel / Wolfgang Engler: Wer wir sind – die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, Aufbau Verlag 2018.

 

Das schweigende Jahrzehnt

Wenig aufgearbeitet bleiben die 1990er Jahre, die das Leben von fast 16 Millionen Menschen auf den Kopf gestellt haben. Die anfängliche Freude über die Überwindung der Diktatur musste schnell der Einsicht weichen, dass es nun galt, sich einem neuen System zu fügen. Die Treuhand privatisierte große Teile des ehemaligen "Volkseigentums", Betriebe wurden verkauft und geschlossen, ganze Landstriche binnen kürzester Zeit deindustrialisiert. Viele Regionen, in denen nicht zufällig die sogenannte Alternative für Deutschland heute zu den stärksten politischen Kräften gehört, haben sich noch immer nicht von dieser harten Transformation erholt, einige wenige dagegen, besonders in Metropolnähe, konnten die Einschnitte kompensieren. Nahezu unaufgearbeitet blieben lange diese strukturellen Prozesse, die eng verwoben mit der kulturellen Transformation das Leben vieler Menschen bestimmt. Viele verließen ihre Heimat, seit einigen Jahren nun kommen viele aber auch zurück. Welche konkreten Erfahrungen prägt das Leben der Menschen in Ostdeutschland? Welche strukturellen und politischen Maßnahmen wendete man damals an? Welche waren die Fehler, welche die Alternativen? Wie der schwierigen wirtschaftlichen und kulturellen Situation in vielen Regionen Ostdeutschlands begegnen?

MIT Ellen Ueberschär (Theologin), Marcus Böick (Historiker), Heinz Bude (Soziologe)
MODERATION Caterina Lobenstein (Journalistin)

ELLEN UBERSCHÄR wurde 1967 in Ost-Berlin geboren und wollte zuerst Ärztin werden. Da dieses Studium nicht genehmigt wurde, studierte sie Theologie in Berlin und Heidelberg. Ueberschär arbeitete ebenfalls an der Evangelischen Akademie zu Berlin im Bereich Zeitgeschichte und Politik. Der politische Faden zieht sich weiter durch ihr Leben: Seit 2016 ist Ueberschär im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

MARCUS BÖICK, geboren 1983 in Aschersleben, ist Historiker und befasst sich vor allem mit der Geschichte der Treuhandanstalt in der DDR. Nach seinem Zivildienst studierte Böick Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, an der er 2016 promovierte mit dem Thema der Dissertation: Manager, Beamte und Kader in einer Arena des Übergangs. Eine Ideen-, Organisations- und Erfahrungsgeschichte der Treuhandanstalt und ihres Personals, 1990-1994. Bis heute arbeitet Böick an der Ruhr-Universität, u.a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter und akademischer Rat. 2018 stand er erneut im Licht der empirischen Arbeit mit Überarbeitung seiner Dissertation.

HEINZ BUDE, 1954 in Wuppertal geboren, ist Soziologe und Professor für Makrosoziologie an der der Universität Kassel. Von 1997-2015 leitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung den Bereich Die Gesellschaft der Bundesrepublik. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Bücher, darunter zuletzt Die Gesellschaft der Angst (2014), Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen (2016) und jüngst Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee (2019).

 

Leseempfehlung zum Thema: 

Marcus Böick: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990-1994., Wallstein Verlag 2018.

Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen, Aufbau Verlag 1989. und: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Aufbau Verlag 2002.

Steffen Mau: Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp 2019.

"Wie es bleibt, ist es nicht"

Über die Ostdeutsche Theatertradition

Ästhetisch wie inhaltlich scheint es fast undenkbar, sich eine Begriff von politischem Theaterschaffen zu machen, ohne sich auf Brecht, Müller, Schleef oder Castorf zu beziehen. Was macht die ostdeutsche Theatertradition ästhetisch wie inhaltlich aus? Was für eine Rolle spielt sie heute noch - künstlerisch wie strukturell?
Was für eine Bedeutung hat diese Tradition des politischen Theaters heute im Osten Deutschlands? Denn, je mehr, angesichts der großen politischen Spannungen und Transformationsprozesse, ob nun in Schwerin, Dresden oder Freiberg, im Osten Deutschlands gebotener den je scheint, politisch Stellung beziehen, desto prekärer und riskanter sind politische Äußerungen in dieser politischen Stimmung. Was bedeutet es, in Ostdeutschland heute Theater zu machen? Welche spezifischen Herausforderungen und Chancen ergeben sich daraus? Kann die Tradition da helfen?

MIT Holger Teschke (Autor), Andrea Moses (Regisseurin), Thomas Oberender (Dramaturg)
MODERATION Hans Dieter Schütt (Journalist)

In dieser Podiumsdiskussion behandelte Hans Dieter Schütt mit seinen Gästen die Thematik des ostdeutschen Theaters. Für Schütt steht fest, die Theaterleute im Osten waren politisch(er) und haben allgemein zur Atmosphäre der Friedlichen Demonstration beigetragen, indem sie zum Demonstrieren aufgerufen haben – auch, wenn dadurch die Theatersäle leerblieben – vor allem die Großdemonstration am Alexanderplatz am 4.November 1989, bei der rund 1 Mio. Menschen für demokratische Reformen und gegen das Machtmonopol der SED protestierten, wurde von der Theaterlandschaft unterstützt. Wie heute vier renommierte ostdeutsche Theaterleute mit der Tradition von u.a. Brecht, Müller oder Castorf umgehen, wird in diesem Panel deutlich.

ANDREA MOSES, geboren 1972 in Dresden, studierte Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften in Leipzig und Berlin und ist heute als Theaterregisseurin weitbekannt. Ihre Spezialisierung liegt beim Musiktheater und Opernstücken. Moses beschreibt ihre Erfahrungen mit dem ostdeutschen Theater als prägend und wichtig, sie sieht den Systemwechsel als Erfahrung für weitere Arbeiten an. Vor allem Wolfgang Engels Inszenierung des Stücks Warten auf Godot empfand sie bis heute als bahnbrechend. Moses beschäftigte sich seit Beginn ihrer Theaterzeit mit der ehemaligen DDR und der kritischen Auseinandersetzung. Ihre erste Festanstellung verbrachte sie in Dessau, wo es noch einfach war, ostdeutsche Themen mitzubringen, da das Publikum und die Zuschauenden in dem Sinne schon bekannt waren. Die Diskussion mit dem Publikum war dort gewinnbringend, es wurden Themen angesprochen wie das mediale Verschwinden der damaligen Theaterleute in der DDR. Nach ihrem Theaterwechsel als Hausregisseurin in Stuttgart ging das nicht mehr so einfach: Moses nahm erneut ihre ostdeutschen Erfahrungen und Gedanken mit, sie wurden jedoch anders aufgenommen. Sie benutzt gerne weiterhin die DDR-Thematik, ist sich aber sicher, dass die spezifischen Bedingungen des DDR-Theaters vorbei sind.

THOMAS OBERENDER wurde 1966 in Jena geboren und beschreibt sich trotzdem als Kind der späten DDR. Der Dramaturg und Autor leitet seit Januar 2012 bis 2021 die Berliner Festspiele und war Mitbegründer der Berliner Autorenvereinigung Theater Neuen Typs, die neue deutsche Stücke am Renaissance-Theater Berlin vorstellte. Oberender wurde ebenfalls stark von dem Leben in der DDR geprägt, jedoch andersherum: Alles war interessant, was nicht DDR(-Kultur) war. Durch seine enge Verbindung zu Botho Strauss, der zwar selbst in der DDR geboren wurde, dann jedoch hauptsächlich seine Zeit im Westen verbrachte, sah Oberender in Theater ein bürgerliches Milieu und innere Spannungen. Dass dies nicht die Gesellschaft wiederspiegelte, in der er lebte, war nicht so einfach zu verstehen. Er begab sich selbst in die ostdeutsche Theaterblase und fühlte sich zum allerersten Mal verstanden, unter Gleichgesinnten; das Theatermilieu dort war prägend: die Menschen durften anders sein, frei denken und fühlen. Kreativität war möglich, ohne dass sie zensuriert wurde. Oberender meint, vieles sei mit der DDR gemeinsam untergegangen, aber das Theater blieb, vor allem wegen Größen wie Heiner Müller, der sogenannte "Würdeanker“, der als Positivbeispiel für eine*n Ostdeutsche*n genommen wurde. Eine einschneidendes Theaterstück für ihn war Andrea Breths Inszenierung "Der einsame Weg": er war schockiert, dass es so etwas wie Tiefe, Tragödie und Ernsthaftigkeit in der DDR-Welt gab. Heute beharrt Oberender darauf, weiterhin alternativ zu denken und wünscht sich sogar vielleicht diese alte Theaterwelt zurück.

HOLGER TESCHKE wurde 1958 in Bergen auf Rügen geboren, ist gelernter Schiffsmaschinist, studierte danach Schauspiel, Regie und Dramaturgie in Berlin und ist heute bekannt als Schriftsteller. Er arbeitete mehrere Jahre am Berliner Ensemble als Dramaturg und Autor, dort hatte er das Glück, noch Schauspieler kennenzulernen, die schon zu Zeiten Brechts am BE aktiv waren. Teschke bestätigte dadurch auch, dass es zum Glück eine flachere Hierarchie am Berliner Ensemble gab und dass sich vor allem vom hohen Ross des Ost-Theaters herunterbegeben wurde. Das sei ein wichtiger Punkt für Teschke gewesen, dort zu arbeiten; Rügens Theaterangebot, einzig bestehend aus Musicals und Operetten, langweilte ihn und doch wusste er schon immer: Er will Theater machen wie es von den ostdeutschen Theaterleuten vorgezeigt wurde. Wichtige Inspirationen waren für ihn Volker Braun und Horst Sagerts Inszenierung des Urfaust mit Herrmann Beyer.

 

Was bleibt von 89?

Im Westen Deutschlands gilt das Jahr 1968 vielen als historische Zäsur, die die Gesellschaft fundamental verändert, alte Strukturen aufgebrochen und den kulturellen Diskurs grundlegend auf den Kopf gestellt hat. In Ostdeutschland hatte die sogenannte friedliche Revolution eine ähnliche Bedeutung. Im Umsturz eines Systems von Unten, durch das Volk, sehen viele eine Zeitenwende des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Mitbestimmung – 1989 als erstes Ereignis des 21. Jahrhunderts. Dass das Gefühl grenzenloser Freiheit und das Erkämpfen von Bürgerrechten schon nach kurzer Zeit jäh von der politischen Realität, dem Wegbrechen des sozialen Bodens, gestoppt und schon bald von den Erlebnissen mit der Treuhand und den Ereignissen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen überschattet wurde, lässt einen leicht die konkreten Vorgänge von 89 vergessen. Auch das allgemeine Klischee von der bananenlosen, grauen und kleinbürgerlichen ehemaligen sowjetischen Besatzungszone, samt Einheitspartei und Einheitsmode, lässt wenig Platz für eine differenziertere Betrachtung der zivilgesellschaftlichen Fortschrittlichkeit und der (zivil)politischen Lage der DDR: Die zahlreichen Frauen- und Emanzipationsbewegungen, viele davon maßgeblich beteiligt an den Montagsdemos und den Protesten von 89. Was lässt sich auch heute von den Emanzipationsbewegungen lernen? Wie konnten sich die Menschen so schnell in Bündnissen zusammenfinden und wirksam gegen ein System stellen, das eigentlich für seine rigorose Abwehr jedweden Querulantentums bekannt war? Was lässt sich von den Reform-Bewegungen lernen? Was aus den Fehlern und politischen Illusionen, die anstatt einer Reformation der DDR zum Anschluss an die BRD führten?

MIT Christoph Links (Verleger), Ulrike Poppe (Bürgerrechtlerin), Anne Wizorek (Journalistin)
MODERATION Heike Kleffner (Journalistin)

CHRISTOPH LINKS, 1954 in Potsdam geboren, ist Verleger und Buchautor. Nach seinem Philosophie- und Lateinamerikanistikstudium in Berlin gründete er einer der ersten unabhängigen und privaten Buchverlage in der DDR. Die Schwerpunkte des Verlags liegen auf Politik und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Weiterhin erscheinen Standardwerke zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik. Seit 1991 ist Links Mitglied des P.E.N.-Clubs.

ULRIKE POPPE, 1953 in Rostock geboren, ist DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige Oppositionelle. Sie setzte sich früh für ein demokratisches Miteinander ein und war 1982 Mitbegründerin des Netzwerkes „Frauen für den Frieden“. Weiterhin wurde Poppe vor allem durch ihre Mitbegründung der Bürger*innenbewegung Demokratie Jetzt, welche im September 1989 ins Leben gerufen wurde. Demokratie Jetzt forderte einen Systemwechsel; neue Reformen, neue Wahlen, neue Chancen auf Freiheit. Heute ist Poppe weiterhin Mitglied des Vorstands von "Gegen Vergessen – Für Demokratie", Mitglied des Vorstands der Robert-Havemann-Gesellschaft, Mitglied des Fachbeirates "Gesellschaftliche Aufarbeitung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" sowie im Beirat der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

ANNE WIZOREK, 1981 in Rüdersdorf geboren, ist Journalistin, Bloggerin und Autorin. Bekannt wurde sie u.a. auf Twitter mit der Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung und Gewalt durch die Aktion #aufschrei, auf dem eingestellten Blog kleinerdrei und durch ihr feministisches Engagement. Im Herbst 2018 erschien im Duden Verlag die Streitschrift Gendern?!, in der sie ein Plädoyer für eine geschlechtergerechtere Sprache verfasst hat. Zuletzt verfasste Wizorek mit anderen Aktivist*innen den Aufruf #NetzohneGewalt, um auf die geschlechtsspezifischen Aspekte von digitaler Gewalt und Hate Speech hinzuweisen und weitere Maßnahmen dagegen einzufordern.

 

Leseempfehlungen zum Thema:

Christoph Links/ Sibylle Nitsche/ Antje Traffelt: Das wunderbare Jahr der Anarchie – Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90, Ch.Links-Verlag 2009.

Christoph Links/ Hannes Bahrmann: Chronik der Wende, Ch.Links-Verlag 1999.