In "Herkunft" versucht der Autor Saša Stanišić sich aus Erinnerungen, Zufällen und Geschichten ein Bild von sich selbst zu machen. Geboren im ehemaligen Jugoslawien und als Jugendlicher damit konfrontiert, auf der Flucht vor dem Krieg in Heidelberg ein neues Leben beginnen zu müssen, fragt er sich: Wer bin ich? Was macht es mit einem Menschen, wenn er seine Heimat verliert? Wie viel Herkunft steckt in dem, was wir Zukunft nennen? Und lässt sich Heimat vielleicht gerade dort finden, wo Geschichten geteilt werden und Erinnerungen eine gemeinsame Sprache finden? Stanišićs Roman zeigt eindrücklich, wie sehr unsere Vorstellungen von Identität mit den Geschichten verknüpft sind, die wir uns selbst und die andere über uns erzählen.
Frau Simon, Sie beschäftigen sich qua Beruf mit Identität und Identitätskrisen. Was ist Identität überhaupt aus professioneller Sicht?
Das ist eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt, und die Suche nach dieser Antwort füllt nicht nur ganze Bücherregale, sondern ist auch ständiger Gegenstand der Psychoanalyse. Man könnte sagen: Identität beschreibt, wie ein Mensch sich in der Welt verortet und wie er sich selbst sieht in Bezug auch auf Gruppenzugehörigkeit, auf Herkunftsort, Heimat. Diese Verortung – sowohl psychisch, emotional wie auch räumlich – ist kein Zustand, den man einmal findet und dann besitzt. Es ist vielmehr ein andauernder Prozess. In diesem Sinne sehe ich auch die Reibungen, die es gerade mit diesem Begriff gibt. Je unsicherer die politischen Zeiten scheinen, desto mehr sehnt man sich nach einem festen Kern, einer festen Identität. Das ist allerdings etwas, das immer enttäuscht werden wird. Wir bewegen uns durch unser Leben, und die verschiedenen Zeitachsen prägen das Bild, das wir von uns haben: Unsere Erfahrungen und Erinnerungen, die Prägungen durch Eltern und Großeltern – kurz: unsere Vergangenheit – spielen dabei natürlich eine große Rolle. Man darf aber nicht
vergessen, dass wir auch im Hier und Jetzt leben und unsere alltäglichen Entscheidungen ebenso bestimmen, wer wir sind. Als Drittes ist dann auch die Zukunft entscheidend: Wer möchte ich sein? Was habe ich vor? Hier sehe ich einen zweiten Spannungspunkt, denn diese Zukunft scheint für viele Menschen heute ungewiss und sogar beängstigend. Viele Menschen tendieren dazu, auf diese Ungewissheit mit einem stärkeren Rückgriff auf die Vergangenheit zu reagieren. Man will sich versichern, auf welchem Boden man steht und dies festhalten.
Man könnte etwas ironisch sagen: Früher war sogar die Zukunft besser …
In gewisser Hinsicht schon. Wenn heute von Zukunft geredet wird, fällt sehr schnell das Wort "Krise". Einerseits verklären wir da die Vergangenheit auch etwas im Nachhinein: Auch frühere Generationen haben keineswegs immer hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt – in den 1970er- und 1980er-Jahren etwa lebten wir mit der Angst vor einem Atomkrieg. Andererseits kann man für die DDR, in der ich aufgewachsen bin und in der ich knapp die Hälfte meines Lebens gelebt habe – und wohl auch für die damalige Sozialistische Republik Jugoslawien, die in Saša Stanišićs Buch eine entscheidende Rolle spielt, – sagen: Das Versprechen einer positiven Zukunft war fester Bestandteil der Staatsideologie des Sozialismus. Und tatsächlich haben sich die sozialen und politischen Verhältnisse für einen Großteil der Bevölkerung relativ sicher angefühlt. Das war natürlich eine Illusion, und sie galt auch nur für diejenigen, die sich dem Regime unterordneten. Für mich und Teile meiner Generation hingegen – ich bezeichne mich immer als Ost-68erin – war die Zukunft auch damals ungewiss. Uns war nicht klar, wohin sich dieser Sozialismus entwickeln sollte, und die Bindung an diese Idee, an diese vermeintliche Sicherheit, nahm immer weiter ab.
Sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene reden Sie von einer gewissen Homogenität und Stringenz, die identitätsstiftend ist und die, wenn sie zu bröckeln droht, zu einem Gefühl von Unsicherheit führt.
Es ist sogar neurologisch nachgewiesen, dass wir zwar ein Bild von uns haben, dieses aber ständig wieder überschreiben. Wir löschen und verdrängen Erinnerungen, um unser Selbstbild kohärent zu halten und Platz für neue Erfahrungen zu schaffen. Wir brauchen eine immer wieder neue Erzählung unseres Lebens, für uns selbst und für andere. Wenn das nicht mehr gelingt, sprechen wir von psychotischen Störungen, die die eigene Identität infrage stellen. Parallelen zu gesellschaftlichen Prozessen drängen sich auf. In Deutschland spielten im 20. Jahrhundert natürlich der Nationalsozialismus und auch die Nachkriegsgeschichte mit der Teilung des Landes eine entscheidende Rolle in der Erzählung davon, wer wir sind. Diese Erzählungen sind in Bewegung, und das ist sicher auch notwendig. Lange Zeit galt etwa die Erzählung einer geglückten Wiedervereinigung – heute wird sie zunehmend hinterfragt. Wie geglückt ist denn die Vereinigung? Oder, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens: Wie gerecht ist die Nachkriegsordnung? Wir haben es da mit vielen auseinanderfallenden Teilerzählungen zu tun. Nun sind Gesellschaften nie homogen, und das ist auch gut so. Diese verschiedenen Erzählungen sind notwendig und fruchtbar, führen aber derzeit zu Spannungen. Das hat auch mit den globalen Unsicherheiten zu tun: ein Krieg in Europa, neue technologische Bedrohungen, künstliche Intelligenz. Wie kann man seinen Weg finden in all diesen Destabilisierungen? Da wird der Rückgriff auf die Frage nach der eigenen Identität umso wichtiger.
Saša Stanišić beschreibt in seinem Buch ein Unwohlsein damit, sich mit der eigenen Herkunft zu beschäftigen – zu einer Zeit, in der Herkünfte wieder benutzt werden, um Grenzen zu ziehen. Wie gelingt ein Rückgriff, ohne dass er im Ressentiment endet?
Es gibt Verwirrungen rund um die Frage nach Verlust. Natürlich ging beim Zerfall Jugoslawiens wie auch der DDR einiges verloren und das könnte man auch betrauern. Aber oft findet nicht Trauerarbeit statt, sondern Verklärung. Die Menschen betrauern meist nicht real den Verlust eines politischen Systems, das jetzt seit Jahrzehnten nicht mehr existiert, sondern sie versuchen, sich in einer sich verändernden Welt im Rückgriff auf vermeintliche Sicherheiten festzuklammern. Bei Stanišić dagegen sehen wir, wie der Rückgriff ohne Ressentiment gelingen kann: mit Humor! Das schätze ich an seinem Buch besonders. Er findet eine Form der Selbstbefragung, die mit Distanz und Witz arbeitet. Humor ist immer auch ein Stück Selbstreflexion. Das fehlt mir manchmal im heutigen Diskurs: Oft wird nur das Schwere betont, als wäre dies das einzig Prägende. Diese analytische Distanz, die Stanišić über den Humor herstellt, ist auch wichtig, wenn man verstehen will, wer man ist. Und das kann, denke ich, nur im Dialog entstehen – in der Gesellschaft, der Psychoanalyse wie auch in der Kunst. Identität spiegelt sich im Gegenüber, immer auch in Bezug auf andere.
Sie sprachen über Krisen und Unsicherheiten. Eine Frage, die viele ratlos zurücklässt, ist, wie in den 1990er-Jahren sowohl auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als auch im zusammenbrechenden Jugoslawien, die sich beide jahrzehntelang als antifaschistisch verstanden, so exzessive rechte Gewalt entstehen konnte. Woher kam das auf einmal?
Diese Haltungen und Ressentiments existierten schon vorher – sie wurden nur staatlich unterdrückt. Man wurde regelrecht mit antifaschistischer Moral überfüttert und das schlug nach ’89 besonders bei Jugendlichen ins Gegenteil um. Das ist das eine. Zum anderen: Umbrüche sind immer gewaltvoll. In Deutschland hatten wir das Glück, dass es nicht zu einem Bürgerkrieg kam, aber die Gewalt suchte sich andere Wege – in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder später in den sogenannten Baseballschlägerjahren. Mit dem Zusammenbruch von Staaten brechen die Institutionen weg, die bis dahin das gesellschaftliche Leben organisiert haben. Es entstand ein Machtvakuum, das sich leider auch mit Gewalt füllte. In Deutschland wurde das medial lange verharmlost – man sprach von "Wende", obwohl es der Umsturz eines ganzen Staates gewesen war.
Sie beschreiben, dass die eigene Identität fragiler zu werden scheint, je unsicherer die Verhältnisse sind. Warum fällt es dabei so schwer, andere Meinungen auszuhalten?
Ich habe den Eindruck, viele reagieren auf die Unsicherheit des eigenen Standpunkts mit stärkerer Abwehr. Wo Sicherheiten wegbrechen, verteidigt man das, was bleibt, umso vehementer. Kommunikation könnte helfen – aber die ist schwieriger geworden. Wir müssten wieder mehr mit Menschen sprechen, auch, wenn sie anderer Meinung sind. Im direkten Gespräch funktioniert das oft besser, als man denkt. Auch hier kann ich nur zu Gelassenheit raten – und zu Humor. Es ist nicht immer schlimm, mit anderen Meinungen konfrontiert zu werden. Wir neigen dazu, Meinungsunterschiede zu skandalisieren – dabei meine ich natürlich nicht menschenverachtende oder rassistische Äußerungen.
Kann die Inklusion in ein neues staatliches System nach solchen Umbruchserfahrungen – wie dem Zerfall Jugoslawiens – überhaupt gelingen?
Entscheidend ist, wie selbstbestimmt man diese Prozesse erlebt hat. Wenn Menschen den Eindruck haben, in ein bestehendes System eingegliedert zu werden, führt das schnell zu Kränkungen und Entwertungen. Denn für eine stabile Identität ist auch Selbstbestimmung notwendig. In der Psychologie nennt man dies Erleben von Selbstwirksamkeit. Und die kann man niemandem einfach geben – sie muss gewollt und erarbeitet werden. Das ist eine große gesellschaftliche Aufgabe: Strukturen zu schaffen, die Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit ermöglichen – und Menschen ermutigen, ihren Platz zu finden.