Backstage

Öffentliches Begaffen intimer Seelenverrenkungen

Produktionsdramaturg Lukas Nowak spricht mit seinem Freund, dem Psychologen Niclas O'Donnokoé, über Johann Wolfgang von Goethes Stück "Stella" und die Liebe - und darüber, dass sich Berufliches und Privates manchmal vermischen müssen. Lesen Sie das Gespräch hier. 

Lukas Nowak und Niclas O'Donnokoé | 02.05.25
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin
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Du gibst dieses Sommersemester ein Seminar an der Uni mit dem Titel Liebe zwischen Lob und Kritik. Wir sind nun seit fünf Jahren in einer Beziehung … Als ich die Idee hatte, für "Stella" – ein Stück, in dem es um die Liebe geht – ein Gespräch mit dem Menschen zu führen, den ich liebe, fragte ich mich, ob das nun nicht endgültig die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem verwischt …

Absolut – und das ist doch gut! Ich liebe ja Gossip-Podcasts wie "Zum Scheitern verurteilt", in denen Menschen sich öffentlich über ihre Gefühle – auch über ihre Liebeserfahrungen – die Seele aus dem Leib quatschen. Die Seele gehört meiner Meinung nach nicht privatisiert, sondern ist in der Öffentlichkeit ganz gut aufgehoben. Diese hypermoderne "Tyrannei der Intimität", wie der Soziologe Richard Sennett das mal kritisch genannt hat, führt uns doch in Reality-TV, Podcasts und TikTok ganz gut vor Augen, dass die inszenierte Mauer zwischen Privatem und Öffentlichem tausend Löcher hat – und schon immer hatte.
Die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem ist historisch ein Ergebnis der bürgerlichen Revolution. Dass diese Grenze eine politisch umkämpfte ist, davon zeugt nicht
nur die jahrhundertelange Geschichte des Feminismus als Infragestellung der "normalen" Bedingungen, unter denen hinter verschlossenen Türen geliebt und gelitten wurde. Stella lässt sich als ein früher Kampf um diese Grenze lesen, die immer einen politischen Zweck hatte: Die abgegrenzte Sphäre des Privaten vor dem Zugriff des Staats zu schützen – um Privateigentum zu schaffen und zu vererben. In Formulierungen wie "meine Frau" oder "unser Einfamilienhaus" schwingt diese besitz- und vertragsförmige Vorstellung von Liebe immer und bis heute mit. Für Stella ist es doch ein guter Ausgangspunkt von der Löchrigkeit dieser Privatisierung auszugehen: Öffentliches Begaffen intimer Seelenverrenkungen.

 

Fair enough. Gleichzeitig ist doch auch unsere Beziehung – dieses Gespräch hier hin oder her – total geprägt von dieser Grenzziehung. Privat erlebe ich uns manchmal wie eine Trutzburg: Wir gegen den Rest der Welt. Work hard, play hard. Auch eine Art Seelenverrenkung, die uns in der bürgerlichen Ökonomie ganz gut funktionieren lässt.

Ja, ein Teil der Intensität unserer Liebe entsteht sicher durch eine Art Wunschprojektion. Wenn mich die Weltlage überfordert, mich die soziale Kälte in der Gesellschaft wütend macht, klammere ich mich manchmal umso stärker an dich. Dieser Eskapismus stabilisiert dann aber eher meine empfundene Ohnmacht. In anderen Momenten habe ich das Gefühl, dass mir unser Umgang Kraft gibt. Widerständig ist unsere Beziehung vielleicht dann, wenn wir an diesem Punkt nicht stehen bleiben wollen. Aber auch wissen, dass wir zu zweit vielleicht uns, aber nicht die Welt retten können. Dafür braucht es Andere. Also wenn wir zum Beispiel in unserer offenen Beziehung die sexuellen Ausschweifungen mit anderen Menschen nicht nur als kurze hedonistische Zerstreuung verstehen, sondern daraus dauerhafte Beziehungen entstehen, die über uns zwei hinaus gehen. Dann ermöglichen diese Erfahrungen vielleicht Lebensmodelle jenseits von Kleinfamilie und Privatheit. Queere Beziehungsweisen, die sich als politische Beziehungsweisen verstehen, versuchen seit Jahrzehnten gegen die herrschenden, einsamkeitsfördernden Formen der Liebe anzulieben.

 

Es gibt in dem Stück einen interessanten Moment zwischen Cäcilie und Stella, als sie über ihren Liebeskummer sprechen. Über diese tiefe Traurigkeit, das, was man geliebt hat, verloren zu haben. In dieser geteilten Erfahrung er-kennen und an-erkennen sich die beiden als Liebende. Im gleichen Moment ver-kennen sie sich aber auch: Sie merken nicht, dass sie um Fernando trauern, also um ein und dieselbe Person ... Nirgendwo im Stück liegen Traum und Wirklichkeit, Erlösung und Schmerz so dicht beieinander. Kurz scheint sogar die Möglichkeit auf, dass Stella und Cäcilie sich ineinander verlieben! Die Möglichkeit einer ganz anderen Lebensform, einer queeren Beziehung – ohne Fernando, dafür aber mit Lucie, Cäcilies Tochter. Eine Art moderne Patchwork-Familie also … Ist queere Liebe revolutionär?

Mit der queeren Liebe ist es so eine Sache. Leider ist sie nicht an sich revolutionär. Sie ist ambivalent, wie die Liebe überhaupt: Liebe zementiert und unterläuft die Lebensformen, die sich auf sie berufen. Liebe kann ein ideologisches Bindemittel sein, das sich wunderbar einspannen lässt in machtvolle Vorstellungen von Familie und Geschlecht. Ob die Patchwork-Familie so viel machtfreier wäre, bliebe abzuwarten. Gleichzeitig ist die Liebe unstillbar und unberechenbar. Indem sie sich als absolut setzt und sich alles unterordnet, kann sie etwas realitätsabgewandtes haben. Hannah Arendt bezeichnet die Liebe als weltlosen Zustand, ja sogar als anti-politisch. All die klassischen Dramen, in denen Stände und Umstände überwunden werden wollen, um vereint zu sein! Das endet meist tragisch, denn die Liebe ist hier oft nur ein Wunsch, der aber mehr als sich selbst braucht, um sich zu verwirklichen.

 

Die Liebe ist also eher kein guter Ausgangspunkt für politische Kämpfe?

Ich bin eher skeptisch, wenn die Liebe zum Grundbegriff des politischen Kampfes erhoben wird. Ein erweiterter Liebesbegriff, der uns nicht vereinzelt, sondern verbindet, ist wünschenswert. Aber kann das gelingen? Es gibt die christliche "Nächstenliebe", der ich aber eher misstraue. Liebe kann sehr selektiv und ungerecht sein. Was es für den politischen Kampf braucht, ist eher eine Haltung der Solidarität, was für mich keine Form der Liebe, sondern ihr genaues Gegenteil ist. Liebe nimmt auf das einzigartige, unbeherrschbare und kaum in Worte zu fassende Wesen eines konkreten Einzelnen Bezug. Solidarität hingegen zielt auf das Universelle im Einzelnen. Auf die Gleichheit der Menschen, die sich daraus ableitet, dass wir alle verletzlich und bedürftig sind.

 

Am Ende von "Stella" spielt ein Märchen eine zentrale Rolle, das in der Geschichte des Grafen von Gleichen aus dem 16. Jahrhundert übrigens ein reales Vorbild hatte. Cäcilie erzählt Fernando, der zwischen Stella und Cäcilie hin- und hergerissen ist, eine Geschichte, an deren Ende sich drei Menschen entschließen, eine Beziehung zu dritt zu führen. Die Kunst leitet hier also die Utopie ein – ihr reales Eintreten! Goethe, der sich biografisch in einer ähnlichen Situation wie Fernando sah, schaffte mit Stella ein Kunstwerk, das zeigte, was in der Realität für ihn nicht zu leben war. Daraus lässt sich auch ein pessimistischer Schluss ziehen: Verhindert die Kunst die Utopie vielleicht gerade? Weil wir in Wahrheit Angst vor ihr haben und anstatt sie zu leben, den Genuss der Utopie lieber bequem delegieren. Etwa, indem wir uns ein Theaterstück anschauen?

Manchmal ja. Indem ich meine Wünsche an die Schauspieler:innen delegiere, muss ich sie nicht mehr so stark selbst fühlen – und vor allem nicht nach ihnen handeln. Das gilt vor allem bei einer kitschigen Kunst, in der wir uns leicht und gerne wiedererkennen, obwohl sie eigentlich ein Zerrbild des Realen darstellt. Wie ein schicker Strauß Schnittblumen, kaufbar und hübsch dekorativ – aber eigentlich gerade dabei zu sterben. Stattdessen könnte man ein "utopisches Begehren" zeigen. Ein Begehren, das inmitten der gesellschaftlichen Widersprüche, Zwänge und Neurosen unserer Gegenwart zappelt und kämpft und wirklich auf ein „Noch nicht“ zielt, so vage dieses sein mag. Oder man entwirft tatsächlich einen utopischen Raum auf der Bühne, wie Cäcilie, als sie das Märchen erzählt. Dieser Wunschtraum darf dann aber nicht wie der Kitsch leicht konsumierbar sein. Die Wunscherfüllung ist fern, wir passen – so wie wir heute sind – nicht recht zu ihr. Das kann uns irritieren und verstören, so wie Fernando, als er das Märchen im Stück hört. An anderer Stelle sagt er: "Ich taumle, und frage mich staunend, ob ich wache oder träume." Vielleicht ist das Zeigen dieser Utopie-Angst auf dem Theater weitaus mächtiger als ein utopisches Happy End.