Bevor für mich der Probenprozess als Hospitantin bei "Herkunft" begann, beschäftigte mich als Leserin von Saša Stanišićs Roman der Humor, der diese Geschichte vorwärts treibt und der auf den ersten Blick in einem krassen Widerspruch zu den vielen Gewalterfahrungen steht, die am Grund dieses Textes lauern. Stanišić war als Jugendlicher vor den Kriegen in Jugoslawien nach Deutschland geflohen und war so gleich doppelt mit Gewalt konfrontiert: durch den blutigen Zerfall seines Heimatlandes und der Herausforderung als Migrant in Deutschland ein neues Leben zu beginnen – in einer Zeit, in der u.a. in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Solingen migrantisch gelesene Menschen verfolgt und ermordet wurden.
In "Herkunft" sorgt der Humor dafür, dass diese Gewalterfahrungen sich nicht immer sofort zeigen. Vielmehr dräuen sie subkutan unter dem erzählten Geschehen. Sie verhaken sich in heiteren Schilderungen des Alltäglichen und scheinbar Banalen. Als Leser:in treffen einen solche Momente deshalb umso härter, weil man gerade dachte, man hätte sich häuslich in einer Szene eingerichtet – und plötzlich stehen da im Regal zwischen Porzellandalmatinern und Häkeldeckchen auch die Fotos von zwei Kriegsverbrechern. Man erschrickt – und fühlt sich gleichzeitig ertappt, weil einem der Roman zeigt, wie leicht der eigene Blick sich mit der Oberfläche der Dinge zufrieden gibt.
Das Latente der Gewalt, ihre unsichtbare Existenz innerhalb des Banalen, scheint als Phänomen der öffentlichen (Un-)Sichtbarkeit der Jugoslawienkriege und der daraus resultierten Diaspora in Deutschland zu ähneln. Während meiner Schulzeit beispielsweise blieben die Jugoslawienkriege eine Leerstelle. Im Geschichtsunterricht wurden sie nicht erwähnt. Vielleicht weil es Geschichte war, die zu nah unter der Oberfläche der Gegenwart zu hängen schien, um für die Verfasser:innen des Lehrplans schon Geschichte zu sein. Ebenso wenig wurden sie im Politik- und Wirtschaftsunterricht thematisiert – vielleicht betrachtete man "den Balkan" nicht als relevantes politisches oder ökonomisches System? Wer weiß.
Mit Kindern, deren Familien vor dem Bosnienkrieg geflohen sind, so wie Saša Stanišićs Familie in Herkunft, habe ich nicht in einer Klasse gesessen. Mit Kindern, deren Familien aus dem Kosovo geflohen sind allerdings schon. Was sitzt da noch alles mit im Raum, wenn der Geschichtslehrer seinen Schüler:innen sagt, dass es seit dem Ende des zweiten Weltkriegs keinen Krieg mehr in Europa gab? Auch wenn in Gesten, Handlungen und Sprache durchaus spürbar war, dass diese Mitschüler:innen, die denselben Raum mit mir teilten, deutlich andere Erfahrungen gemacht hatten, als ich – und dass diese sich meiner Lebensrealität entzogen –, wurden diese Erfahrungen weder konkret durch persönlichen Austausch, noch abstrakt durch den Unterricht thematisiert. Stattdessen wurden die Mitschüler:innen unhinterfragt als die ‚Anderen‘ abgestempelt und damit in gewisser Weise an das bestehende Bild eines Schulalltags angegliedert. Schlicht, weil ihre Leben in "unserer" Geschichte keinen Platz fanden, "ihr" Krieg niemals erwähnt wurde.
Die blind gebliebenen Flecken in meinem Blick traten hervor, als ich das erste Mal in Sarajevo zu Besuch war. Ich wusste zuvor kaum etwas über die Stadt. Franz Ferdinand, ein Krieg in den Neunzigern und eine Belagerung. Extrem vage. Das Meiste hatte ich aus kurzen Artikeln, die mir mitgeteilt hatten, dass Jugoslawien zerbrochen sei, weil ein politisches Pulverfass in die Luft geflogen war. Diese Berichterstattung schien zu schreien: zu kompliziert, das mit den ganzen ethnischen, religiösen und nationalen Interessengruppen, zu kompliziert das alles mit diesen verschiedenen Menschen, ihren Interessen, ihren Bedürfnissen. Dann doch lieber das Pulverfass, da muss man sich auch nicht fragen, wer als Pulver gedient hat.
Ich war als Touristin in Sarajevo. Als Gast. Ich dachte an Geschichte, die in Museen aufgearbeitet wird (was sie natürlich auch wird). Aber erst als ich zu Boden blickte, nachdem ich gerade eine Kathedrale bestaunt hatte, wurde mir die Gewalt richtig bewusst, die hier vor gerade einmal 30 Jahren stattgefunden hatte. Dort, wo 1992 eine Granate vor der Kathedrale in den Boden eingeschlagen war, war der zerfurchte Stein mit rotem Harz ausgefüllt worden. Es sah so aus, als würde Blut unter der Erdoberfläche nach oben drängen und dort gerinnen. Dasselbe beim Blick auf die Gebäude. Ich besah die osmanische und sozialistische Architektur und die Bauten der k.u.k. Monarchie und erst beim zweiten Hinschauen nahm ich die Einschusslöcher wahr. Und später beim Abendessen im Restaurant ‚Karuzo‘ (das damit wirbt, das einzige vegane Restaurant in ganz Bosnien zu sein) sprach der Wirt auf Deutsch mit mir, wie zuvor schon einige andere Menschen, mit denen ich als Touristin in Sarajevo zu tun hatte. Die eigene Sprache im Ausland zu hören wirkte vertraut und erst im Nachhinein irritierend. Auch das hatte mit der Diaspora und einer Geschichte zu tun, von von der ich in Deutschland kaum je etwas gehört hatte – mit der Gewalt und dem Krieg und den tausenden weißen Grabsteinen in den Hügeln von Sarajevo.
Im November jährt sich das Ende des Bosnienkriegs zum dreißigsten Mal. So eine Jahreszahl bietet sich natürlich an, um die Jugoslawienkriege in einer breiten medialen Öffentlichkeit auch in Deutschland zu rezipieren. Inwieweit die Geschichte in Ereignisse in der Gegenwart fortwirkt – ob in Abspaltungsbestrebungen in der Republik Srpska, bei den Protesten in Serbien oder im Alltag migrantischer Menschen in Deutschland – gehört zu dieser Rezeption dazu.
Wenn die Gewalt der Geschichte nur dann hervortritt, wenn sich die eigene Aufmerksamkeit kurz verfängt, bedeutet das nicht nur, dass man sie immer wieder an eine öffentliche, einsehbare Oberfläche zerren muss, sondern auch, dass man den Blick beim Schauen auf vermeintlich Banales einüben muss. Damit einem die Kriegsverbrecher im Regal beim nächsten Mal gleich auffallen und einem klar wird, wie Vergangenes in der Gegenwart nachwirkt – ob in Gebäuden, Körpern oder Sprache.