Heute "De Profundis". Oliver Reese inszeniert und ich darf kurz vor der Sommerpause vorbeischauen. "Nur eine Textprobe", wurde mir gesagt, aber als ich mich auf die Probebühne schleiche, bereitet sich das Team vor, als erwarte es Publikum.
Hinten links ein doppelt besetztes Tonpult (die musikalische Assistenz kalibriert präzise), dahinter eine provisorische Umkleidekabine. Rechts ein schmaler Tisch, direkt vor dem Fenster (ein Regiehospitant blättert in der aktuellen Textfassung), davor ein langer Tisch, auf dem diverse Laptops aufgeschlagen sind (die Probenleitung manifestiert den Schauspieler aus dem verspäteten Zug zu uns). Ich lasse mich auf einen Stuhl ganz hinten fallen und tue, was ich vermute, tun zu können – ich blättere auch in der Textfassung.
"De Profundis" ist im Gefängnis entstanden. Der Monolog ist eigentlich ein langer Brief, den Oscar Wilde an den Grund seiner Haft schreibt – seinen Ex. Lord Alfred Douglas, genannt "Bosie", war ein englischer Dichter und bis zu Wildes Inhaftierung im Jahr 1895 dessen öffentliche Affäre. In 50.000 Wörtern diskutiert er ihr Verhältnis und die wichtigen Fragen des Lebens: "Wie werden wir zu denen, die wir sind?" oder "Was bedeutet Schuld?" oder "Wie viele Monate Zeit darf sich der Mann, für den ich ins Gefängnis gegangen bin, für den ersten Brief nehmen?"
Klar ist es frech, ausgerechnet Bosie für die Verurteilung verantwortlich zu machen: Er war genau wie Wilde an der damals als "grobe Unzucht" bezeichneten Homosexualität beteiligt, hätte also nach geltendem Recht genauso ins Gefängnis gemusst (ein Gesetz, das übrigens erst 1967 in Teilen abgeschafft wurde). Und trotzdem ist er nicht gänzlich unschuldig. Immerhin war er es, der Wilde dazu brachte, seinen Vater anzuklagen.
Mit Jens Harzers Ankunft wandelt sich die wuselige Atmosphäre in ästhetische Bereitschaft. Der Ton ist kalibriert, die aktuelle Textfassung ringsum an der richtigen Stelle aufgeschlagen und der Schauspieler zersägt die Deutsche Bahn inzwischen mit nüchternen Pointen. Als er hinter der Umkleidekabine verschwinden will, ergreift Oliver Reese das Wort: "Dafür brauchst du dich doch nicht umziehen … Wir machen doch heute nur Text." "Oscar Wilde hätte sich auch für eine Textprobe das Kostüm angezogen", hält jemand in der Runde dagegen und bekommt in der Sekunde Recht, in der Jens Harzer wieder aus der Kabine kommt. Er hat nicht viel mehr getan, als sich ein leicht zerknittertes Hemd überzuwerfen – trotzdem wirkt er präsenter, das Probenkostüm erfüllt also seinen Zweck. Das finale Kostüm gibt es erst zur AMA, also der Ankleide-, Masken- und Ausstattungshauptprobe.
"Deine einzige Lebensauffassung bestand darin, dass für jede deiner Handlungen ein anderer bezahlen muss", rezitiert Jens Harzer und die Wörter kommen ebenso aus ihm wie aus den Gesten der Souffleuse. Die ist auch schon anwesend. Natürlich. Ihr Job ist nämlich nicht nur Rettungsanker, sondern auch zu vermitteln, wie man schwimmt.
Oliver Reese, der sich genau diese Zeilen schon häufig vorgelesen haben muss, verfolgt sie konsequent fasziniert:
"Sag das ruhig, wie du es sagen willst, das klingt gut", meint er und blickt prüfend in die Runde.
"An der Stelle hatte ich noch etwas zum Streichen."
"Ja, das klingt besser."
"Wie geht's dir damit? Oder willst du es anders sagen? Sag es mal."
So entwickeln wir uns durch den gesamten vierten Teil. Oliver Reeses Regie prägt den Raum wie das chorische Blättern und Streichen und Jens Harzers ständige Suche nach etwas, das er anspielen kann. Ab und zu trifft es mich: "Hast du je darauf gewartet, zum Essen eingeladen zu werden?" Fast hätte ich geantwortet. Dabei ist gänzlich irrelevant, ob Harzer eine Person anspielt oder sein Bühnenbild.
In einem Ensemble-Stück geht es um die Dynamik zwischen Menschen. Die nötige Spannung springt mit dem gesprochenen Wort von einer Person zur nächsten und macht diverse Dimensionen auf. In einem Solo gibt es nur um die Figur. Dynamik braucht sie trotzdem.
Jens Harzer kann damit umgehen: Er lässt sein Monolog-Vakuum am Raum reißen, bis ein neues Fragment herausbricht und die letzte Zeile unterstreicht. Aus der Tiefe zerrt Harzer die Bedeutung und braucht nicht einmal einen Statisten, der dazu betroffen nickt.