Der kaukasische Kreidekreis

von Bertolt Brecht
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Bei einer Revolution lässt die fliehende Gouverneursfrau ihr Baby zurück. Ihre Magd Grusche findet das Kind und rettet es. Am Ende ihrer beschwerlichen Flucht, wird sie vor ein Gericht gestellt, da die Gouverneursfrau ihr Kind zurückhaben will. Die Zeiten haben sich geändert, jetzt ist das Kind der Erbe eines großen Vermögens. Doch kurz bevor die alte Herrschaft die Zügel wieder fest im Griff hat, erfindet der Richter Azdak für den Fall, dass die biologische Mutter ihr Kind zurückfordert, den salomonischen Kreidekreis neu. Es ist kein Zufall, dass Bertolt Brecht am Berliner Ensemble 1954 als erstes den Kaukasischen Kreidekreis inszenierte. Die Frage, die hier verhandelt wird, ist von ebenso großer Schlichtheit wie politischer Eindringlichkeit: Wem gehört die Welt?

Die Handlung des "Kaukasischen Kreidekreis" ist modellhaft klar und dialektisch schön. Brecht wählte die alte Erzählung, "die in sich selbst nichts beweist, lediglich eine bestimmte Art von Weisheit zeigt", um ein soziales Experiment vorzuführen. Das Stück beginnt in der ersten Fassung mit einem Vorspiel. In einem zerschossenen Dorf im Kaukasus sitzen 1944 Bauern zusammen, um über ihre Zukunft zu beraten. Die Deutschen Truppen sind gerade erst abgezogen und nach schweren Kämpfen steht jetzt die Arbeit des Wideraufbaus an. Doch der Krieg hat die Bewohner des Tales und ihre Landwirtschaft durcheinandergebracht. Die ursprünglichen Ziegenhirten waren vor den deutschen Truppen geflohen und Obstbauern aus dem Nachbartal haben inzwischen das Weideland begutachtet. Sie stellen nun den Antrag, dass der Boden für Obst- und Weinbau verwendet werden soll. Die Versammlung muss also entscheiden, ob die ehemaligen Bewohner zurücksiedeln dürfen oder das Tal anderen Zwecken dienen soll.

Um diese schwierige Entscheidung treffen zu können, wurde ein Sänger eingeladen, der die Geschichte vom "Kaukasischen Kreidekreis" vorträgt. Erst hier beginnt die Erzählung der Magd Grusche, die während einer Revolution das Kind des geköpften Gouverneurs rettet und auf ihrer Flucht vieles erleiden muss. Denn die Menschen begegnen ihr nicht mit Menschlichkeit und am Ende droht sie den Verlobten und das gerettete Kind zu verlieren.

Worin besteht nun also das Experiment dieser Erzählung? Die Szene in der Grusche sich entschließt trotz ihrer Verlobung mit Simon Chachawa und den Wirren des Krieges, das fremde Kind zu retten, stellt einen der Höhepunkte in Brechts Werk dar. Der menschlichste Impuls, ein kleines Kind vor dem Tod zu retten, kostet die Figur eine ganze Nacht und ein Lied des Sängers, um sich gegen die guten Gründe für eine Flucht allein durchsetzen zu können. Durch das Lied des Sängers öffnet sich die historische Situation, in der eine solche Entscheidung anderes bedeutet als in Friedenszeiten. Erst im Zusammenspiel von Grusche und Sänger wird also der Vorgang hinter dem Vorgang deutlich. Gäbe es diese Szene nicht, so wäre die Entscheidung eine nur individuelle und ließe lediglich Rückschlüsse auf den Charakter der Grusche zu. Diese Bewertung durch die Zuschauenden wäre aber nicht einmal die halbe Wahrheit, sondern nur eine sentimentale Meinung: Sie hat das Kind gerettet, sie ist ein guter Mensch; sie hat es liegen lassen, sie ist ein schlechter Mensch. Erst die Infragestellung der Kriterien einer behaglichen Urteilsmaschinerie erzeugt das Staunen über die Situation, in der die Entscheidung zur Güte die unwahrscheinlichste Entscheidung ist. Und erst das Erstaunen über diese Erkenntnis bildet den Horizont, vor dem das weitere Handeln verstanden werden kann.

Grusche rettet also das Kind und Station für Station folgen die Zuschauer ihrem Kampf, bei dem ihre Sorge für das Kind auf eine harte Probe gestellt wird und sie nicht selten ihren Entschluss bereut. Brechts eigene Erfahrung von Flucht und Staatenlosigkeit findet hier Eingang in die Handlung. Denn Grusches Versuch, ein fremdes Kind zu retten, führt modellhaft vor, wie auf der Flucht die alltäglichsten Dinge zu gewaltigen Herausforderungen werden. Doch zugleich knüpfen diese Erfahrungen mit einer wenig freundlichen Welt das neue Band zwischen ihr und dem Kind so fest, dass die Frage nach der biologischen Mutterschaft immer weiter verschwindet. Dass Grusche am Ende das Kind zugesprochen bekommt, wo es keine Sekunde einen Zweifel daran gegeben hat, dass sie nicht die leibliche Mutter ist, und dass diese Entscheidung auf die emotionale Zustimmung aller Zuschauenden hoffen darf, ist das brechtsche Skandalon.

Die Verwandtschaft zwischen Eltern und Kindern ist für alle Kulturen eine elementare Beziehung, auf der die gesellschaftliche Ordnung begründet wird. Die Arten der Blutsbande werden unterschiedlich verstanden, doch sind sie über alle Kulturen hinweg ein unhintergehbares Fundament für die Begründung von Gemeinschaften. Die Frage nach der Mutterschaft wird im Kreidekreis nicht biologisch angezweifelt, sondern die Tatsache selbst wird auf ein anderes Fundament gestellt. Durch die Reise der Grusche erfährt die Frage des Vorspiels nach den Eigentümern des zerstörten Tals eine emotionale Umdeutung. Wenn es plausibel erscheinen kann, dass der biologischen Mutter nicht selbstverständlich ihr Kind gehört, dann sind auch alle anderen Eigentumsverhältnisse fraglich.

Die Eigentümer berufen sich zu allen Zeiten auf die natürliche Ordnung, nach der das Eigentum heilig sein soll. Doch würde einmal eine Reise gewagt wie der von Grusche und dem Kind, so träten viele Fragen auf. Macht man diese Reise in die Vergangenheit, so stellen sich die Fragen nach dem Anfang des Eigentums: Seit wann gehört der Boden jemandem? Und wie ist er zum Besitz geworden, durch welchen Krieg und welche Vertreibung hat jemand sich ihn angeeignet?

Schaut man hingegen in die Gegenwart, so stellen sich die Fragen nach den Eigentumsverhältnisse wiederum anders. Seitdem eine Ökonomie erfunden worden ist, die eine Hierarchie zwischen dem Eigentum an Arbeitsverhältnissen und dem Verkauf von Arbeitskraft durchsetzt, werden die Menschen in zwei Klassen eingeteilt. Es gibt diejenigen, die über die Bedingungen verfügen, Menschen für sich arbeiten zu lassen, und es gibt diejenigen, die nur ihre eigene Arbeitskraft besitzen. Die Besitzer der Arbeitsverhältnisse kaufen nun auf dem Markt die nötige Arbeitskraft, um damit Waren produzieren zu lassen.

Das System einer solchen Ökonomie ist so einfach, dass seine Verteidiger es leicht als natürliche Grundlage der Gesellschaft behaupten können. Diesen Schleier der naturhaften Ordnung zu lüften, benötigt jede Zeit ihre eigenen Anstrengungen. Denn der Gegensatz von Kapital und Arbeit schlägt sich in zwei unterschiedlichen Ordnungen nieder. Es gibt den Arbeitsmarkt, auf dem jeder versuchen muss, seine Kräfte möglichst gut zu verkaufen. Und es gibt die symbolische Ordnung der moralischen und sozialen Systeme, durch die bestimmt ist, was in einer Zeit überhaupt öffentlich verhandelt werden kann. In unsere Gegenwart hat die symbolische Ordnung ein Maß der Verblendung erreicht, bei dem die Frage nach dem Eigentum nur noch ohne jede Forderung nach Konsequenzen gestellt werden kann.

Es ist heute undenkbar, dass z. B. ein Arbeiter seinen Anspruch auf die Maschine, an der er arbeitet, erhebt, indem er sagt, ich arbeite seit Jahren damit, also ist sie mein Eigentum. Es würde ihm auch nichts helfen, wenn er beweisen könnte, dass die von ihm so hergestellten Waren inzwischen den Wert der Maschine überstiegen haben. Die Berechnung, die der Kapitalist fleißig anstellt, um die Rendite und Amortisierung seines Kapitals zu kontrollieren, hat für den Arbeiter keine Bedeutung. Wenn z. B. nach fünf Jahren Arbeit, die Kosten der Maschine erwirtschaftet sind, so gehört sie nun ihrem Eigentümer und nicht demjenigen, der durch seine Arbeit diese Einnahmen produziert hat.

Brechts Satz, dass die Ausbeuter nicht zu allen Zeiten mit den selben Mitteln ausbeuten, gilt heute mehr denn je. Was bei der Arbeit an der Maschine noch offensichtlich ist, ist in den neoliberalen Wohlstandszonen hinter einem dichten Schleier verschwunden. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit hat sich scheinbar aufgelöst, da er sich in jeden einzelnen Menschen verlagert hat, wo Produktion, Konsum und Selbsterhaltung ineinander verflochten sind.

Heute hat z. B. kaum ein Facebook-Nutzer den Gedanken, dass er für seine Arbeit am Informationskapital von Facebook bezahlt werden müsste. Seine Arbeit wirkt doch wie das Vergnügen einer permanenten Selbstdarstellung. Dass sein Konsumentenprofil die begehrte neue Ware ist, bleibt hinter dem Genuss der Selbstperformance verborgen und die logische Konsequenz wird darum nicht mehr gezogen. Wenn das milliardenschwere Vermögen allein in der Datenmenge besteht, dann sind durch den Trick, dem Narzissmus eine Bühne geboten zu haben, alle User freiwillig enteignet worden.

Die symbolische Ordnung unserer Zeit hat bewirkt, dass die Enteignung durch Facebook legitim, die Forderung der User nach Bezahlung hingegen wie weltfremder Irrsinn wirkt. Utopien verbinden sich heute mit den neuesten Computeralgorithmen und nicht mehr mit der sozialen Frage. Die Macht dieser postmodernen Herrschaft begründet sich u. a. darauf, dass es keine Bilder und Erzählungen gibt, die die Realität so sichtbar machen könnten, dass sich dadurch etwas ändern würde. Zugleich gibt es unendliche Variationen darüber, warum es richtig und natürlich ist, dass Facebook Milliarden verdient und die Familie Krupp, die Brecht gerne als Beispiel für die Darstellungsprobleme nimmt, ein Vermögen akkumulieren konnte. So wird die immer gleiche Argumentation eingeübt, nach der die Ungleichheit von Kapital und Arbeit eine natürliche Ordnung ist und alle Folgeprobleme nur innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu behandeln sind.

Die Frage, warum etwas Natur sein soll, was als ökonomisches System doch offensichtlich erst vor ca. vierhundert Jahren erfunden worden ist, wird mit der Natur des Menschen beantwortet. Das Wesen, das von Natur aus künstlich ist und die unterschiedlichsten Weltanschauungen und Gesellschaften erfunden hat, soll in einem Punkt unbelehrbar sein: Der menschliche Egoismus ist nur durch die Gewalt des Marktes zu beherrschen.

Die Ausgangsfrage im Kreidekreis, wem das Tal gehört, und ihre Durchführung anhand der Rettung eines fremden Kindes, ist einer der vielen brechtschen Versuche, eine Geschichte zu erfinden, in der eine Ahnung von der Dimension dieser Frage auftaucht. Wie sie für unsere Zeit, die um ein vielfaches weiter in der Naturalisierung des Unrechts fortgeschritten ist, überhaupt noch zu stellen ist, vermag niemand zu sagen. Dass das Theater hierfür eine Bühne hatte, galt zumindest für vergangene Zeiten. Und dass das Berliner Ensemble von Brecht und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eigens für solche Versuche gegründet wurde, ist unbestritten. Die ersten Punkte seines kurzen Textes über die "Eigenarten des Berliner Ensembles" versetzen einen unmittelbar in die Zeit eines hoffnungsvollen Neuanfangs: "1. Die Gesellschaft als veränderbar darzustellen; 2. Die menschliche Natur als veränderbar darzustellen; 3. Die menschliche Natur als abhängig von der Klassenzugehörigkeit darzustellen; 4. Konflikte als gesellschaftliche Konflikte darzustellen." Und schließlich der 7. Punkt, der uns heutigen wohl mit der größten Verwunderung zurücklässt: "Die dialektische Betrachtungsweise zum Vergnügen zu machen"“

von Bernd Stegemann

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Pressestimmen

Pressestimmen

"Eine Wucht, der entschlackteste Brecht, den man sich nur wünschen kann."Süddeutsche Zeitung

"Stefanie Reinsperger, schmachtet, schwelgt, trieft, juchzt, ächzt, hopst, greint, knutscht, schluchzt, heult, zetert und verachtet auf Champions-League-Niveau."Die Welt

"Ein umjubelter Paukenschlag zum Auftakt der Ära Reese."Der Standard

"Stefanie Reinsperger ist grandios."Die Zeit

"Es ist eine harte, schnelle Produktion – zurechtgestutzt auf die Geschichte der Magd, die im Krieg ein Kleinkind rettet, das sie unter großen Entbehrungen aufzieht. Stefanie Reinsperger spielt sie mit ungeheurer Energie, angefeuert von E-Gitarrenriffs, die ein Musiker live auf die Bühne donnert – ein Brecht fürs 21. Jahrhundert."RBB Kulturradio

"Schauspielerische Naturgewalt."Der Tagesspiegel

"Stefanie Reinsperger ist eine Sensation."Berliner Morgenpost