George Orwell – eine Kassandra der Moderne?

Ein Essay von Gerhard Danzer

Seine dystopischen Zukunfsvisionen aus "1984" wirken aktueller denn je: Anthropologe und Psychosomatiker Gerhard Danzer geht in einem langen Essay der Frage nach, ob Orwell eine moderne Kassandra ist.

18.11.23
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin
Kontakt & Anfahrt

Theaterkasse

+49 30 284 08 155
theaterkasse@berliner-ensemble.de

Der Vorverkauf für alle Vorstellungen bis 3. Juni 2024 läuft; der Vorverkauf für Juni/Juli startet am 8. Mai. Unsere Theaterkasse hat montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 18.30 Uhr für Sie geöffnet.

Der Blick in die Zukunft ist für Menschen von alters her wichtig gewesen. Aus der Antike stammen die Rollen und Funktionen des Sehers und Weissagers. So erzählt uns die griechische Mythologie von Teiresias, dem blinden, alten Priester, der über die Gabe verfügte, seinen Mitmenschen die zukünftigen Schicksale vorauszusagen. Er kleidete seine Voraussagen aber in solch sibyllinische Formulierungen, dass die meisten Betroffenen mit ihnen herzlich wenig anzufangen wussten.

Eine ebenfalls weissagende Rolle nahm Kassandra ein, wobei ihre Prognosen in der Regel düster eingefärbt waren. Der Gott Apollon hatte sie, weil sie sich ihm verweigerte, dazu verflucht, dass keiner, der ihre Zukunfts-Szenarien hörte, diesen Glauben schenkte. Als tragische Heldin sah Kassandra hellsichtig das kommende Unheil voraus und warnte ihre Mitmenschen davor – allein, diese Warnungen verhallten ungehört. 

Derartige Prognosen, oft als Kassandra-Rufe bezeichnet, gab und gibt es auch in unserer Zeit. Als Hellseher und Weissager, der in vielen seiner Texte nicht nur bestehende, sondern auch kommende Übel beschrieben hat, galt und gilt George Orwell (1903-1950). Vor allem mit der Dystopie "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949) wurde Orwell weltberühmt.

Biografisches I.

Orwell, dessen bürgerlicher Name Eric Blair war, wurde 1903 als Sohn des britischen Kolonial-Offiziers Richard Blair in Motihari (Bengalen, Indien) geboren. Sein Vater war Angestellter in der Kolonialverwaltung und hatte in Indien Ida Mabel Limouzin geheiratet, die aus einer französischen Holzhändler-Familie stammte. Nach der Geburt des Sohnes Eric ging Frau Blair zusammen mit dessen Schwestern nach England, wo sie die Kinder besser aufziehen konnte als in Indien. Der Gatte hingegen blieb vorerst (bis 1911) in Fernost und besuchte seine Familie nur ab und an. 

Seine Schulzeit verbrachte Orwell auf englischen Internaten – zuerst auf der Preparatory School St.Cyprians nahe Eastbourne in Sussex und später auf der Eliteschule Eton in der Grafschaft Berkshire. Insbesondere seine Zeit in St.Cyprians erlebte er schikanös und entwürdigend; mit bisweilen gnadenlosem Drill wurden die Schüler auf ihre Aufnahmeprüfungen in höhere Schulen (wie etwa in Eton) vorbereitet respektive dressiert. Auch in Eton hat Orwell eigenem Bekunden nach nur wenig gelernt. Mit 19 Jahren ging er nach Indien und diente bis 1927 bei einer Polizeitruppe in Burma. Seine Aufgabe bestand (so Orwell) darin, die Bevölkerung zum Gehorsam gegenüber den britischen Kolonialherren anzuhalten.

Nach Europa zurückgekehrt, lebte Orwell etwa zwei Jahre lang in Paris, wo er sich – entgegengesetzt zu den gesellschaftlichen Strebungen, die er an englischen Internaten wie auch während des Polizeidienstes in Indien empfunden hatte – auf der sozialen Rangleiter nach unten und nicht nach oben orientierte. Von nun an mischte er sich unter Arme, Kleinkriminelle, Outlaws, fahrendes und schlichtes Volk, lernte deren Welten kennen und sich in ihnen zu behaupten. Da seine kargen Ersparnisse aufgebraucht waren, verdingte er sich eine Weile als Tellerwäscher in einem Pariser Grand Hotel: 

"Ich schuftete in einer engen kleinen Höhle, einer Kombination aus Anrichte und Spüle, die direkt zum Essraum hinausging. Neben dem Abwasch musste ich die Essen für die Kellner holen und ihnen servieren; die meisten unter ihnen waren so unerträglich anmaßend, dass ich mehr als einmal meine Fäuste gebrauchen musste, um für gewöhnliche zivilisierte Zustände zu sorgen." George Orwell: "Als Tellerwäscher im Grand Hotel" (1933), in: Meister-Erzählungen, Zürich 1991, S. 69f.

In Paris meldete sich das erste Mal Orwells Lungenerkrankung derart drastisch, dass er gezwungen war, sich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen. Schon als Kind hatte er wiederholt an Infekten der Lunge gelitten, und es steht zu vermuten, dass sich bei ihm spätestens seit dieser Zeit Bronchiektasen (Erweiterungen der Luftwege) entwickelten. Diese Lungenschädigung führte zusammen mit den häufig aufreibenden Lebensumständen Orwells (oftmals in feuchten Räumen; jahrelang kriegerische Verhältnisse um ihn her; Nikotin- und Alkohol-Abusus) letztlich zu einer Tuberkulose-Infektion, an der er 1950 gestorben ist. 

Ende 1929 ging Orwell nach London, wo er den Pauperismus noch intensiver als in Paris am eigenen Leib erlebte. Zeitweise hauste er wie die Stadtstreicher um den Trafalgar Square in lausigen Notunterkünften, wo er für nur wenige Pennys übernachten und einen Tee trinken konnte. So sehr sich Orwell auch mit anderen Obdachlosen identifizierte, so sehr fiel er doch unter ihnen auf, weil er als einziger ein Buch (z.B. von Balzac: Eugénie Grandet) mit sich führte und darin las.

Im Sommer 1931 arbeitete er eine Weile als Hopfenpflücker – eine Tätigkeit für Saisonarbeiter und Tagelöhner, die einige wenige Shillings einbrachte. Nicht recht viel besser wurde er als Aushilfslehrer und Betreuer eines invaliden Jugendlichen bezahlt. Zwischendrin hielt er sich in der Bermondsey-Bibliothek im Südosten von London auf, wo er lesen und zunehmend auch schreiben konnte. 

Die frühen Texte Orwells waren vorrangig journalistischer Natur; eine allererste Publikation gelang ihm 1931 mit "The Spike" (Der Stachel). Diese Beschreibung eines Londoner Workhouse (Armenhaus) wurde im Periodikum New Adelphi publiziert, in dem beispielsweise auch Katherine Mansfield oder D.H. Lawrence veröffentlicht hatten. Der Text Orwells wurde in sein Buch "Erledigt in Paris und London" (1933) mitaufgenommen, wobei er hier das erste Mal sein Pseudonym George Orwell (als Autor, der den Snobismus von Eric Blair hinter sich lassen wollte?) verwendete. Verlegt wurde das Buch von Victor Gollancz (1897-1967), einem britisch-jüdischen, sozialistisch eingestellten Verlagsleiter. 

Nachdem Orwell noch etwa ein Jahr lang in der Buchhandlung Booklover‘s Corner im Londoner Stadtteil Hampstead mitgearbeitet hatte, konnte und wollte er ab 1935 als freier Schriftsteller leben. Kurz nacheinander erschienen zwei Romane von ihm: "Eine Pfarrerstochter" (1935) sowie "Die Wonnen der Aspidistra" (1936). Der letztere Text handelt von einem Möchtegern-Schriftsteller, der sich ganz der Kunst widmen will und aufgrund seiner finanziellen Kalamitäten dabei grandios scheitert. Zum Schluss heiratet er und kauft sich als Sinnbild einer bürgerlichen Existenz eine langweilige Zimmerpflanze (Aspidistra). 

Wie ideologie- und gesellschaftskritisch Orwell den Roman angelegt hatte, wird an jenen Passagen deutlich, in denen er – den ersten Korinther-Brief von Paulus persiflierend – den Kapitalismus als Religion der Neuzeit und die Anbetung des Geldes aufs Korn nimmt:

"Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte des Geldes nicht, so wäre ich ein tönend Erz … Das Geld ist langmütig und freundlich; es eifert nicht, treibt nicht Mutwillen, es blähet sich nicht… Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung und Geld, diese drei; aber das Geld ist das größte unter ihnen:" George Orwell: "Die Wonnen der Aspidistra" (1936), Zürich 1983, S. 5

Biografisches II.

Im selben Jahr 1935 lernte Orwell seine zukünftige Frau Eileen O’Shaughnessy kennen. Die 29-jährige junge Frau stammte aus irisch-katholischer Familie und hatte in Oxford Psychologie studiert, ohne allerdings ihren Abschluss des Studiums zu realisieren. Sie war „hochintelligent und schlagfertig, besaß einen bissigen Humor und zeigte sich bald sehr angetan von dem großgewachsenen, kränklichen, erfolglosen Romanautor mit dem wilden dunklen Haarschopf … und den klaren, oft exzentrischen Ansichten.“ (Solnit, Rebecca: "Orwells Rosen" (2021), Reinbek bei Hamburg 2022, S. 55).

Zusammen mit ihr lebte Orwell von 1936 bis 1940 in einem kleinen Cottage in Wallington, einem Dorf in der Grafschaft Hertfordshire, nördlich von London; in der Dorfkirche des Ortes heirateten die beiden bald. Orwell hatte einen Garten angelegt, um Obst und Gemüse zu ernten; im Erdgeschoß seines Hauses war ein kleiner Gemischtwarenladen eingerichtet, in dem sich die Dorfbewohner mit dem Allernötigsten versorgen konnten. 

Das karg-idyllische Landleben, das einem Brief Eileen O’Shaughnessys zufolge zeitweise von heftigen Auseinandersetzungen, wochenlangem Regen, schimmelig gewordenen Lebensmitteln und von Kaninchen gefressenen Brokkoli geprägt war, währte nicht lange. Ende des Jahres 1936 zog es Orwell und wenige Wochen später auch seine Gattin nach Spanien, um als Zeitungsreporter im Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner über die Truppen des Generalissimus Franco (dieser hatte den Putsch gegen die Spanische Republik angeführt) zu berichten. 

Unterstützung erfuhr Franco von italienischen und deutschen Faschisten (z.B. der Legion Condor), wohingegen die Sowjetunion unter Stalin überaus halbherzig die Republikaner begünstigte; insbesondere die libertär-anarchistischen Impulse und Konzepte vieler spanischer Sozialisten und Republikaner waren den verbohrt-ideologischen und dogmatisch-kommunistischen Überzeugungen der Bolschewiki ein mächtiger Dorn im Auge. 

Orwell, der sich wie andere Schriftsteller und Intellektuelle (z.B. André Malraux, Ernest Hemingway, Arthur Koestler, Ernst Busch, Ludwig Renn, Egon Erwin Kisch, Erich Arendt, Simone Weil) an den Internationalen Brigaden als Freiwilliger und Berichterstatter beteiligte, war wie viele weitere Spanienkämpfer von Hause aus liberal eingestellt. Er selbst bezeichnete sich als Tory-Anarchisten (als an Werten und Traditionen orientiert); und der mit ihm befreundete Dichter Stephen Spender (1909-1995) meinte einmal über ihn: „Kommunist war er vor allem deshalb nicht, weil die Kommunisten keine Kommunisten waren, George Orwell aber schon.“
Nachdem Orwell kurzzeitig einer halb-anarchistischen Miliz mit engem Kontakt zur Independent Labour Party zugeordnet war, wurde er 1937 schwer verwundet (Halsdurchschuss) und musste einige Monate in einem Lazarett zubringen. 

In der Zwischenzeit war diese Miliz ins Fadenkreuz von Stalinisten geraten, und Orwell tat gut daran, sich nach seiner halbwegs erfolgten Genesung mit seiner Frau nach Frankreich abzusetzen und dann nach England zurückzukehren. In Wallington nahm er wieder seine Schriftsteller-Arbeit auf und fertigte einen gewichtigen Text über Mein Katalonien (1938) an. Darin positionierte er sich entschieden gegen den Kommunismus Stalinscher Couleur im Spanischen Bürgerkrieg – wohl wissend, dass auch ihm dabei nur ein Teil der historischen Wahrheit zugänglich war.

Orwells Kommunismus-kritische Einschätzungen trugen dazu bei, dass sich der damals prorussisch eingestellte Victor Gollancz weigerte, den Text von "Mein Katalonien" in seinem Verlag erscheinen zu lassen. Derselbe Victor Gollancz hatte Orwell im Jahr vor dessen Spanien-Abenteuer jedoch angeboten, eine Reportage über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Industrieregionen Nord-Englands zu verfassen. Der Autor reiste daraufhin nach Wigan, einem Bergbau-Ort zwischen Liverpool und Manchester, und wurde dort mit Massenarbeitslosigkeit und sozialer Verelendung konfrontiert. In seinem Bericht "Der Weg nach Wigan Pier" (1937) schilderte er unverblümt die skandalösen Verhältnisse, auf die er stieß – so etwa hinsichtlich der Wohnungsnot.

© Jörg Brüggemann

Man konnte nachvollziehen, wenn verarmte Urlauber damals davon sprachen, sie machten Ferien am Wigan Pier. Neben einer ungeschönten Beschreibung dieser an den Frühkapitalismus erinnernden Verhältnisse überlegte Orwell in dem Text, warum der Sozialismus in Großbritannien trotz solcher riesigen gesellschaftlichen Probleme keine Massenbewegung geworden war. 

Als Ursachen dafür benannte er die Verschrobenheit, die ideologische Orthodoxie sowie die Abgehobenheit vieler Vertreter des Sozialismus, die das konkrete Leben der Menschen (etwa in Wigan) aus den Augen verloren hatten. Solche Gedanken zusammen mit der Stalinismus-Kritik in Mein Katalonien brachten es mit sich, dass Orwell Ende der 30er Jahre nicht nur von der englischen Polizei aufgrund seiner angeblich kommunistischen Aktivitäten, sondern mindestens so sehr auch von der Labour-Presse und damit von Personen aus seiner ursprünglichen linken politisch-gesellschaftlichen Heimat mit zunehmendem Argwohn beäugt und beurteilt wurde.

Biografisches III.

Ende der 30er Jahre hatten Mussolini, Franco, Hitler, Stalin in Europa den Totalitarismus bis zu jener Schwelle getrieben, die ab dem Herbst 1939 den Zweiten Weltkrieg bedeutete. Orwell reagierte darauf einerseits publizistisch und veröffentlichte Texte, die sich äußerst kritisch mit dem faschistischen und bolschewistischen Bellizismus und Imperialismus sowie mit der weitverbreiteten Appeasement-Politik vieler linksliberaler Intellektueller auseinandersetzte. Was die Person sowie die Politik Hitlers anbelangte, hatte er sich von Anfang an keine Illusionen erlaubt; in "The New English Weekly" konnte man im März 1940 eine konzise Einschätzung Hitlers und seiner Expansionspläne aus der Feder von Orwell lesen, bei der er den kommenden Überfall der Deutschen auf Russland (trotz des Hitler-Stalin-Pakts) voraussagte.

1940 erschien im Verlag von Victor Gollancz eine neue Essays-Sammlung von Orwell mit dem Titel "Im Inneren des Wals". In den Jahrzehnten danach wurde die Zusammensetzung der einzelnen Texte mehrfach verändert, und inzwischen kann man in der deutschsprachigen Ausgabe (Zürich 1975) auch Abhandlungen aus den späteren 40er Jahren lesen. Eine davon trägt die Überschrift "Warum ich schreibe" (1946) und befasst sich mit dem Stil und den Inhalten der Schriften Orwells – also letztlich mit autobiographischen Themen des Autors:

"Ich halte es in einer Epoche wie der unsrigen für sinnlos, sich einzubilden, dass man als Schriftsteller politische Probleme umgehen kann. Jeder behandelt sie in der einen oder anderen Form. Die Frage ist nur, auf welcher Seite man steht und wie man sie anpackt. Und je klarer man sich der eigenen politischen Voreingenommenheit bewusst ist, desto größer ist die Chance, politisch zu wirken, ohne seine ästhetische und geistige Integrität zu opfern... Gute Prosa ist wie eine Fensterscheibe... Bei einem Rückblick auf mein Werk stelle ich fest, dass meine Bücher immer dann leblos geworden sind, wenn ihnen eine politische Absicht fehlte und ich mich in gedrechselte Passagen, nichtssagende Sentenzen, schmückende Beiworte und ganz allgemein in Geschwafel verlor." George Orwell: "Warum ich schreibe" (1946), in: Im Innern des Wals, Zürich 1975, S. 14ff.

Nichtssagendes Geschwafel wollte Orwell auch zukünftig nicht von sich geben, und dementsprechend substanziiert und seriös wirken daher seine Reportagen aus den letzten Kriegstagen, die er in Deutschland und Österreich vom März 1945 an bis in den Spätherbst desselben Jahres als Journalist für den "Observer" erstellte. In diesen Texten begegnet man einem Berichterstatter, der ohne Hass-Affekte und ohne triumphierende Siegerpose die teilweise völlig zerstörten Städte (Köln, Nürnberg) und ihre ebenso verstörten Bewohner (das deutsche „Herrenvolk“) beschreibt:

"Es ist eine seltsame Vorstellung, dass dies die Leute sind, die zeitweise ganz Europa vom Kanal bis zum Kaspischen Meer beherrscht haben und womöglich auch unsere Insel hätten erobern können... Die Propaganda ... hat uns dazu veranlasst, sie uns hochgewachsen, blond und arrogant vorzustellen. Was man in Köln tatsächlich sieht, sind kleine, dunkelhaarige Menschen, offensichtlich von derselben Rasse wie auf der anderen Seite der Grenze in Belgien, und überhaupt nicht außergewöhnlich." George Orwell: "Ordnung schaffen im Chaos von Köln" (25.03. 1945), in: Reise durch Ruinen – Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945, München 2021, S. 15

Orwell unterbrach seine Reportage-Tätigkeit nur kurz, als er Ende März 1945 die erschütternde Nachricht erhielt, dass seine Gattin Eileen infolge einer Narkose bei einer Unterleibs-Operation in England verstorben war. Etwa ein Jahr zuvor hatte das Paar einen elternlosen Knaben adoptiert, und diesen Sohn (die Eltern nannten ihn Richard Horatio) musste Orwell nunmehr alleine großziehen – wobei sich der Autor als überaus zugewandter Vater erwiesen haben soll. Nach der Beerdigung seiner Gattin übergab Orwell das Kind einer befreundeten Frau und kehrte auf den Kontinent zur weiteren Berichterstattung zurück. Er war nicht der Mensch, der seine Trauer kommuniziert hätte – seine Tuberkulose jedoch flackerte erneut auf.

Biografisches IV.

Manche Kollegen und Biografen von George Orwell waren und sind der Meinung, dass dieser Autor nur wenige Produktionsmittel benötigte, um erfolgreich zu schreiben: ausreichend Tabak, englischen Tee, Bleistifte oder eine funktionierende Schreibmaschine. Doch zumindest für einen Roman, besser für den Roman, der Orwell bald nach seinem Erscheinen berühmt werden ließ, darf und muss noch ein weiterer wesentlicher „Umstand“ seiner Genese Erwähnung finden: Eileen, die Gattin Orwells. Im Gegensatz zu vielen seiner anderen Texte nämlich entstand "Animal Farm" (1945) in enger Kooperation mit ihr. 

Den Plan zu dieser satirischen Fabel, oder besser gesagt: zu einem entlarvenden Text über den Stalinismus, Bolschewismus und Kommunismus, trug Orwell bereits seit seinen Erlebnissen im Spanischen Bürgerkrieg in sich. Bei aller diesbezüglichen hellsichtigen Kritik, die in ihm seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre reifte, war ihm allerdings lange Zeit nicht klar, in welcher Form er diese so zum Ausdruck bringen konnte, dass seine Leser die Stoßrichtung seiner Kritik – sie sollte nicht nur gegen den Stalinismus, sondern gegen alle Formen von Totalitarismus und Inhumanität gerichtet sein – adäquat verstanden.

© Jörg Brüggemann

Modelle für eine derartig kritische Auseinandersetzung gab es damals bereits einige: Ignazio Silone hatte 1938 "Die Schule der Diktatoren – Ein Lehrbuch für alle, die ernsthaft versuchen, die Männer, die Ideen und die Geschehnisse unserer Zeit zu erkennen" publiziert; André Gide war bereits zwei Jahre zuvor 1936 nach einem Aufenthalt in der UdSSR desillusioniert zurückgekehrt und hatte die Impressionen im Text Zurück aus Sowjet-Russland zusammengefasst; 1940 schließlich war von Arthur Koestler dessen Roman Sonnenfinsternis erschienen, in dem der Autor auf verschlüsselt-fiktionale Art die Ereignisse der Moskauer „Säuberungs-Prozesse“ in den Jahren 1936 bis 1938 aufgezeichnet und dabei die perfide Dynamik zwischen dem Einzelnen (im Roman: der Volkskommissar Rubaschow) und dem politischen System (Stalinismus, Bolschewismus) transparent gemacht hatte.

Am meisten überzeugte Orwell dabei Koestlers Form des politischen Romans, wobei ihm – hier kommt seine Frau Eileen mit ins Spiel – eine mindestens ebenso fiktionale, aber deutlich witziger-satirische Form der Darstellung vorschwebte. Auf die Idee, seine Diagnosen des Sowjet-Totalitarismus als Tier-Märchen zu erzählen, verfiel Orwell, als er zufällig einem zehnjährigen Jungen dabei zusah, wie dieser einem riesigen Karrengaul, den er einen schmalen Pfad entlangtrieb, jedes Mal die Peitsche gab, sobald das Pferd Anstalten machte, umzukehren:

"Mir kam der Gedanke, dass wir über die Tiere keine Macht mehr hätten, sobald sie sich ihrer Kraft bewusstwürden, und dass die Menschen die Tiere so ziemlich auf dieselbe Weise ausbeuten, wie die Reichen das Proletariat ausbeuten." George Orwell: "Vorwort zur ukrainischen Ausgabe von Animal Farm" (1947), in: Farm der Tiere – Ein Märchen, München 2021, S. 159

Ab dem Winter 1943/44 arbeitete Orwell täglich an dem Manuskript für "Animal Farm", und seit dieser Zeit las Eileen O’Shaugnessy nachts jeweils das, was ihr Mann tagsüber geschrieben hatte. Die Biografen berichten, dass Eileen Blair von dem entstehenden Text, besonders von der fabelhaften Ausgestaltung, begeistert und ihrerseits für Rhythmus und Tonfall mancher Passagen mitverantwortlich war. Außerdem sind die meisten Orwell-Experten davon überzeugt, dass viele witzig-satirische Bezeichnungen und Dialoge dieses Tier-Märchens auf den Einfluss von Eileen Blair zurückzuführen sind. 

Obschon das Manuskript bereits 1944 fertiggestellt war, dauerte es bis Mitte 1945, bis sich ein Verleger fand, der es wagte, Animal Farm zu publizieren. Die Absagen von Verlagsleitern, etwa von Victor Gollancz, waren auf den damaligen Zeitgeist zurückzuführen. 1944/45 galten in der westlichen Welt der Alliierten die UdSSR unter Stalin sowie die Rote Armee als wichtige, erfolgreiche, opferbereite Kämpfer gegen die faschistischen Achsenmächte; eine wie auch immer geartete Kritik an ihnen und ihren politischen Verhältnissen kam einem Tabubruch gleich. Wie zugespitzt die Verhältnisse seinerzeit waren, kann man erahnen, wenn man bedenkt, dass die Gattin des Verlegers Frederic Warburg, die dem Kommunismus nahestand, mit Scheidung drohte, sollte ihr Mann das Manuskript Orwells zur Veröffentlichung annehmen – wozu er sich zuletzt dennoch entschlossen hat.

In "Farm der Tiere" erzählt Orwell die Geschichte einer Idee (Kommunismus) und ihrer Umsetzung in konkrete, oftmals schauerliche Realität (in Russland nach der Revolution 1917). Einzelne Tiere übernehmen dabei die Rolle von ehemaligen oder seinerzeit noch lebenden Philosophen, Ideologen, Revolutionären, Politikern: Old Major, ein preisgekrönter Eber, steht für Marx und Lenin; der Berkshire-Eber Napoleon repräsentiert Josef Stalin; der weiße Eber Schneeball stellt Leo Trotzki dar; das kleine, dickliche Schwein Petzwutz agiert wie der Denunziant Molotow; die drei Pferde Boxer, Kleeblatt und Molly stehen für die drei sozialen Klassen der Arbeiter (Boxer), Mittelschicht (Kleeblatt) und Bourgeoisie (die eitle Molly, der es immer nur um ihre Schleifen im Haar geht). 

Neben den Tieren kommen in "Animal Farm" auch Menschen vor: in Mr. Jones wird Zar Nikolaus II. gespiegelt; Mr. Frederick steht für Adolf Hitler; Mr. Pilkington präsentiert die westlichen Alliierten; in Mr. Whymper charakterisierte Orwell jene Intellektuellen, die sich damals vom real existierenden Sozialismus blenden ließen. Daneben gibt es noch Schafe (unkritische Mitläufer), Hühner (die Landarbeiter), Katzen (die russische Mafia), die Ziege Muriel (sie kann immerhin lesen) sowie den Esel Benjamin (ein alter und weiser Skeptiker). Die Hunde stellen die persönliche Leibwache Napoleons dar, und der Rabe steht für die orthodoxe Kirche.
Schon zu Beginn des Märchens, als die Tiere ihren Farmer Mr. Jones (den Zaren) vertreiben und selbst die Herrschaft über ihre Farm übernehmen, lernen sie ihre Hymne, die Internationale der Tiere, die so etwas wie die Ideale und utopischen Ziele der neuen Herrschaftsform zu ihrem Inhalt hat. Old Major, der im Märchen (wie ehemals Lenin) bald stirbt und keinen Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf der Revolution nehmen kann, singt das Lied seinen Genossen vor:

"Tiere Englands, Tiere Irlands, / Erdentiere weit und breit, / Horcht auf meine Freudenbotschaft / Von der goldnen Zukunftszeit. / Eines Tages wird man stürzen / Aller Menschen Tyrannei, / Und auf Englands grünen Weiden / Grasen Tiere sorgenfrei..." George Orwell: "Farm der Tiere – Ein Märchen" (1945), München 2021, S. 15

Wie solch hehre Ziele erreicht werden sollen, ist nach dem Tod von Old Major immer wieder Thema heftiger Auseinandersetzungen, vor allem zwischen den beiden Ebern Napoleon und Schneeball. Immerhin einigen sich anfangs alle noch auf sieben Gebote, die eine Art Grundgesetz und Verhaltenskodex für die Farm der Tiere bedeuten sollen: 1) Was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind. 2) Was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund. 3) Kein Tier soll Kleidung tragen. 4) Kein Tier soll in einem Bett schlafen. 5) Kein Tier soll Alkohol trinken. 6) Kein Tier soll ein anderes Tier töten. 7) Alle Tiere sind gleich (George Orwell: "Farm der Tiere – Ein Märchen" (1945), München 2021, S. 26).

Es dauert nicht lange, und erste Ungereimtheiten und Konflikte kommen obenauf. Die Futterrationen werden eigentümlich eingeteilt, Milch verschwindet, die Arbeit auf der Farm wird eher härter und umfangreicher als früher, und es etablieren sich Hierarchien mit dazu assoziierten Privilegien. Das siebte Gebot wird zunehmend willkürlich interpretiert, so dass einige Tiere (z.B. Napoleon, Petzwutz) gleicher als die anderen Gleichen imponieren. Außerdem schwingen sie sich zusammen mit Schneeball auf, den Gang der Ereignisse und die dafür nötigen Opfer der Mit-Tiere vorherzusagen und festzulegen. 

Nach einiger Zeit tragen etliche Tiere (die Nomenklatura) Kleidung, schlafen in Betten und trinken Alkohol, indes die Mehrheit der anderen Tiere gezwungen wird, sich an die sieben Gebote zu halten. Weil insbesondere Napoleon, der heftige Konflikte mit Schneeball um den weiteren Weg für die "Animal Farm" auszutragen hat, sich nach und nach von Schneeball wie auch von dessen Anhängern bedroht fühlt, baut er zu seinem Schutz mit den Hunden eine Art Geheimpolizei (Tscheka, GPU) auf; wenig später erfolgen die ersten Hinrichtungen, angeblich, um auf der Farm eine Konterrevolution zu verhindern:

"Als das von den Hinrichtungen ausgelöste Entsetzen ein paar Tage danach abgeklungen war, erinnerten sich einige Tiere – oder glaubten sich zu erinnern –, dass das sechste Gebot lautete: „Kein Tier soll ein anderes Tier töten.“ Und auch wenn sich alle hüteten, das in Hörweite der Schweine oder Hunde anzusprechen, hatten sie doch das Gefühl, dass die Hinrichtungen damit nicht in Einklang zu bringen waren. Klee bat Benjamin, ihr das sechste Gebot vorzulesen, und als der es wie gewohnt ablehnte, sich in solche Angelegenheiten einzumischen, holte sie Muriel. Muriel las ihr das sechste Gebot vor. Es lautete: „Kein Tier soll ein anderes Tier töten, wenn es keinen Grund gibt.“ Irgendwie waren die letzten fünf Wörter aus dem Gedächtnis der Tiere verschwunden." George Orwell: "Farm der Tiere – Ein Märchen" (1945), München 2021, S. 84

Auch im Kontakt mit den Farm-Nachbarn ergaben sich Fragen über Fragen. Eine Weile wurde diskutiert, ob man an Mr. Frederick Bauholz der Farm verkaufen solle. Napoleon erklärte stolz, dass es dazu nie und nimmer kommen werde – schließlich sei Mr. Frederick ein Todfeind für die Farm-Bewohner. Kurze Zeit später jedoch gab es einen Kaufvertrag (Hitler-Stalin-Pakt); Mr. Frederick wurde zum Freund und Mr. Pilkington zum Erzfeind der "Animal Farm" deklariert. Und wieder wenige Tage darauf erwies sich das Geld von Mr. Frederick (für das Bauholz) als gefälscht, und deshalb musste dieser nun neuerlich vom Propaganda-Apparat (Eber Petzwutz) als Todfeind taxiert werden. Zum Ende des Märchens hin bittet Klee ihren Freund Benjamin, ihr noch einmal die sieben Gebote vorzulesen, die an der Stirnwand der großen Scheune geschrieben standen:

"Benjamin war ausnahmsweise bereit, seine Regel zu brechen, und las ihr vor, was an der Mauer geschrieben stand. Es gab nur noch ein einziges Gebot. Es lautete: ALLE TIERE SIND GLEICH, ABER MANCHE TIERE SIND GLEICHER ALS ANDERE. Danach war nichts Befremdliches mehr daran, dass die Schweine, die am nächsten Tag die Arbeit auf der Farm beaufsichtigten, allesamt Peitschen in den Vorderklauen trugen." George Orwell: "Farm der Tiere – Ein Märchen" (1945), München 2021, S. 121f.

George Orwell im Jahre 1940

© Cassowary Colorizations, CC BY 2.0

Als "Animal Farm" im August 1945 erschien, war die öffentliche Reaktion und Kritik darauf durchaus schon von den ernsten Irritationen mitgeprägt, die Stalins Politik gegenüber den West-Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hervorrief. Hier zeichnete sich bereits der kommende Kalte Krieg zwischen Ost und West ab, und von der vormaligen kritiklosen Bejahung der UdSSR während der Kriegsjahre war nur noch wenig übriggeblieben. 

Orwells Text wurde rasch als antisowjetische und antikommunistische Parabel gelesen und einseitig als kritischer Kommentar zu den totalitär-inhumanen Machenschaften des Stalinismus und Bolschewismus interpretiert. Orwell selbst betonte jedoch mehrfach, dass er mit seinem Roman einer Skepsis allen totalitären Systemen gegenüber Ausdruck verleihen wollte: „Natürlich sollte es vor allem eine Satire auf die russische Revolution sein. Aber es hat auch eine umfassendere Bedeutung, insofern ich zum Ausdruck bringen wollte, dass diese Art von Revolutionen ... nur zu einem Austausch der Herrschenden führt.“ (George Orwell: "Brief an Dwight Macdonald" (5.Dezember 1946), zit. n.: Shelden, M.: George Orwell – Eine Biographie (1991), Zürich 1993, S. 510)

Es ist fraglich, inwiefern diese Gedanken Orwells beim Lesepublikum tatsächlich verfangen haben; die Verkaufszahlen von "Animal Farm" übertrafen aber komplett die Erwartungen des Autors. Wenige Jahre nach der Erst-Publikation in England waren 25.000 Exemplare verkauft; noch überraschender war der Erfolg in den USA, wo innert vier Jahren beinahe 600.000 Exemplare verkauft wurden. Animal Farm ist inzwischen zum Long- und Bestseller avanciert, in Dutzende Sprachen übersetzt und in vielen Ländern sogar als Schullektüre in den Lehrplänen verankert.

Biografisches V.

Nach dem Tod seiner Gattin Eileen und nach der Publikation von "Animal Farm" verspürte Orwell den Wunsch, für sich und den Sohn Richard Horatio einen neuen Lebensmittelpunkt zu suchen. Eine solche Suche war auch deshalb notwendig geworden, weil im Zweiten Weltkrieg die Wohnung Orwells von einer V1-Rakete ziemlich zerstört worden war.

Im Herbst 1945 besuchte der Autor zum ersten Mal die Hebriden-Insel Jura, westlich von Schottland im Atlantik gelegen. Dort besaß David Astor (1912-2001), der Zeitungsverleger des Observer und ein enger Freund Orwells, ein kleines Haus in Barnhill, einem Flecken ohne Strom und ohne Telefon. Der nächste größere Ort war sieben Meilen entfernt – dazwischen gab es Torf, Heide, Moor. Astor hatte Orwell angeboten, das Haus für einen Ferienaufenthalt zu nutzen – der Dichter hingegen war von der Abgeschiedenheit Barnhills ebenso wie von der herben Schönheit der Landschaft derart angetan, dass er den Plan entwickelte, auf Jura eine ländliche Zuflucht für den Rest seines Lebens zu finden, wo er zusammen mit seinem Sohn und einer Haushälterin oder einer zweiten Gattin wohnen könnte. 

Im Frühsommer 1946 unternahm Orwell etliche Anläufe, eine Gefährtin zu finden, die bereit war, mit ihm ein derart karges und einfaches Leben auf dieser Hebriden-Insel zu führen. Von mindestens drei Frauen ist bekannt, dass er ihnen sehr direkt und unverhohlen Heiratsanträge unterbreitete (Anne Popham, Celia Paget, Sonia Brownell), die teilweise regelrecht tragisch anrührend gewirkt haben müssen, ohne allerdings zum Ziel zu führen:

"Im Grunde frage ich Sie, ob Sie die Witwe eines Schriftstellers sein möchten. Falls es nämlich mehr oder weniger bei der jetzigen Situation bleibt, dann wäre das insofern attraktiv, als Sie wahrscheinlich Tantiemen bekommen würden… Falls mir noch zehn Jahre bleiben, werde ich wohl noch drei lohnende Bücher in mir haben, abgesehen von kleineren Arbeiten, aber ich möchte Ruhe und Frieden haben und einen Menschen, der mich gernhat." George Orwell: "Brief an Anne Popham" (18. April 1446), zit. n. Shelden, M.: George Orwell – Eine Biographie, Zürich 1993, S. 552

Doch weder Anne Popham noch Celia Paget noch Sonia Brownell gingen (vorerst) auf Orwells bisweilen linkisch wirkende Werbungs- und Annäherungsversuche ein. Zwar imponierte der Dichter manchen Frauen aufgrund seiner weltanschaulichen und intellektuellen Souveränität, seiner emotionalen Differenziertheit und seiner milden, toleranten Art des zwischenmenschlichen Umgangs. 

Die asketische Härte und Disziplin seiner sonstigen Daseinsgestaltung allerdings müssen für die meisten Frauen herausfordernd bis distanzierend gewirkt haben. Sonia Brownell aber, die zuletzt doch noch einer Heirat mit Orwell zustimmte und ihn als seine Witwe drei Jahrzehnte überlebt hat, behauptete, er sei privat viel heiterer gewesen, als die meisten ihn aus der Ferne einzuschätzen pflegten. Dies bestätigte auch sein Freund Arthur Koestler: „Er war Pessimist, genau wie ich. Ich fand seine Gegenwart daher nicht bedrückend, sondern anregend.“ 

Den Sommer 1946 über und ab dem Frühjahr 1947 dann kontinuierlich lebte Orwell auf Jura, wobei auch sein Sohn Richard und seine Schwester Avril bei ihm wohnten. Die Letztere machte sich als Köchin und Haushälterin unersetzlich, so dass ihr Bruder sich bevorzugt der Schriftstellerei widmen konnte. Noch 1946 entstanden so etwa 50 Seiten eines neuen Romans, den Orwell vorerst mit dem Arbeitstitel "Der letzte Mensch in Europa" versehen hatte; später formulierte er diesen in den uns allen bekannten Titel "Nineteen Eighty-four" (1984) um.

Das einfache Leben in Barnhill begeisterte Orwell einerseits sehr: Er bewegte sich gerne in der Natur, unternahm zum Teil abenteuerliche Ausflüge mit einem kleinen Boot auf dem Meer rund um Jura, fischte und versuchte sich wie schon in den Jahren zuvor im Gemüse-Anbau. Immer wieder lud er Freunde und Bekannte aus London ein, ihn in seinem Hebriden-Domizil zu besuchen, wobei er jeweils einschränkend betonte, dass sie die letzten Meilen bis zu seinem Haus zu Fuß zurückzulegen hätten und auf schweres Gepäck verzichten sollten – schließlich verfügte er lediglich über ein klappriges altes Motorrad, auf dem sich nur leichte Taschen transportieren ließen.

Andererseits bedeutete das Cottage Barnhill vor allem im Herbst und Winter eine mächtige Herausforderung für den Dichter. Das Haus erwies sich als dauernd reparaturbedürftig und zugleich als kaum beheizbar – von behaglichem Komfort ganz zu schweigen. Hinzu kam das überwiegend feuchte Klima auf Jura; Richard, der Sohn Orwells, bestätigte nach dem Tod des Vaters, dass es auf den Hebriden durchschnittlich an zwei von drei Tagen kontinuierlich regnete und es deshalb nur wenige Gelegenheiten gab, den Torf (das bevorzugte Heizmaterial) überhaupt zu trocknen. Dementsprechend gering und – besonders für Orwells angegriffene Lunge – ungesund war die Wärme-Ausbeute.

So verwundert es nicht, dass der Autor aufgrund seiner massiv angeschlagenen Gesundheit 1948 für längere Zeit eine Klinik in Glasgow aufsuchen musste. Die dort durchgeführte Diagnostik ergab einen durch Tuberkulose schwer geschädigten linken Lungenflügel, und Orwell widerfuhr das große Glück, zu den ersten Kranken zu gehören, die mit dem seinerzeit neu entdeckten Antibiotikum Streptomycin behandelt wurden. 

Nach etwa drei Monaten wurde Orwell aus der Klinik entlassen und stürzte sich – wen wundert es – sofort wieder auf sein Roman-Projekt. Eine erste Version hatte er Ende 1947 abgeschlossen, wobei er fand, dass große Teile des Manuskripts komplett überarbeitet und neu geschrieben werden mussten. Unter Hintanstellen seiner überaus labilen Gesundheit arbeitete Orwell täglich wie ein Besessener an seinem Roman, von dem er ahnte, dass es sein Meister- und zugleich aber auch sein letztes großes Werk werden würde.

Im Dezember 1948 konnte Orwell das bereinigte und von ihm selbst abgetippte Manuskript an den Verlag schicken. Da es wieder zu Lungenblutungen gekommen war, begab sich der Dichter erneut in ein Sanatorium, dieses Mal nach Cranham in der Nähe von London. Anfang 1949 besuchte ihn sein Verleger Frederic Warburg im Sanatorium und besprach mit ihm die Details der Veröffentlichung von "1984". In den Wochen darauf korrigierte ein völlig kraftloser, ausgezehrter George Orwell die Druckfahnen des Romans, der Mitte des Jahres erscheinen konnte. Bereits wenige Wochen nach der Publikation und den ersten begeisterten Rezensionen zeichnete sich ab, dass "1984" ein Welterfolg werden würde.

© Jörg Brüggemann

Kurze Zeit nach der Veröffentlichung von "1984" erhielt Orwell im Sanatorium von Cranham noch weiteren Besuch: Sonia Brownell (1918-1980), der er Jahre zuvor einen Heiratsantrag unterbreitet hatte, und die er von ihrer früheren Mitarbeit bei der Zeitschrift Horizon her kannte, meldete sich bei dem inzwischen berühmten Schriftsteller und erkundigte sich nach seinem Befinden. Orwell hatte jahrelang schon Gefallen an der attraktiven und lebensfrohen Frau gefunden, die mit ihrer expansiven Art die Gunst von Künstlern (Lucien Freud, Pablo Picasso) ebenso wie von Philosophen (Maurice Merleau-Ponty) zu erobern wusste. 

Als Orwell nun erneut mit Sonia Brownell zusammentraf, wiederholte er seinen Antrag, woraufhin diese überraschenderweise zustimmte. Im Dezember 1949 heiratete das Paar in einem Krankenzimmer einer Londoner Klinik. Der Dichter versprach sich von der Heirat einen erotischen Aufschwung und einen eventuell günstigeren Genesungsverlauf seiner Tuberkulose. Darüber hinaus war ihm an einer tüchtigen Nachlass-Verwalterin für seine Schriften und Romane gelegen, und in einer solchen Funktion schätzte er Sonia Brownell durchaus korrekt und passend ein. Diese hingegen profitierte vom hohen Bekanntheitsgrad ihres Gatten und von den nicht unerheblichen Tantiemen für seine Bücher, die sie nach seinem Tod als Erbin und kompetente Nachlass-Verwalterin erhalten hat. Orwell starb Anfang 1950 in einem Londoner Krankenhaus. Die Vorbereitungen, den Schwerkranken in ein Schweizer Sanatorium für Lungen-Patienten zu verlegen, hatten sich erübrigt. 

Neunzehnhundertvierundachtzig I.

Drei Männer in Anzügen vor einem Spiegel auf beiden Seiten.

© Jörg Brüggemann

Schenkt man den Forschungsergebnissen von Anthropologen, Psychologen, Soziologen, Philosophen Glauben, ist der Mensch das einzige Lebewesen, das weit in die Zukunft vorausdenken und planen kann. Experimente mit Orang-Utans, aber auch mit Raben und anderen Tierarten haben gezeigt, dass manche von ihnen (vor allem die Primaten) Pläne etwa für den darauffolgenden Tag aushecken und umsetzen. Ob es allerdings darüber hinaus ein Vorstellungsvermögen von Zukunft (im Sinne von Jahre, Jahrzehnte umfassenden Perioden) bei ihnen gibt, scheint fraglich. 

Menschen hingegen sind potenziell in der Lage, ihr persönliches wie auch das Dasein ihrer Zeitgenossen bis hin zum Faktum von Limitierung und eigenem Tod zu imaginieren; manche stellen sich sogar die Verhältnisse nach ihrer individuellen Lebensspanne vor. Die von Philosophen, Anthropologen, Psychologen wiederholt als exquisit für den Homo sapiens beschriebene Eigenschaft der Weltoffenheit bezieht sich auch auf die zeitliche Dimension seiner Existenz: Menschen sind nicht nur weltoffen, sondern auch zeitoffen. In ihre Gegenwart ragt immer weit Zurück- wie auch weit in der Zukunft-Liegendes hinein, und insbesondere das Zukünftige erregt lange schon das neugierige Interesse von vielen.

So kennt die Kulturgeschichte seit Jahrtausenden einzelne Menschen oder auch Institutionen, die sich um die Vorhersage der individuellen wie kollektiven Zukunft bemühten. Man denke an die griechische Antike mit den weisen Sehern (Teiresias, Kassandra), den Verlautbarungen von Sibyllen (Wahrsagerinnen mit sibyllinischen Aussagen) oder den Orakelsprüchen von Priesterinnen, etwa des Orakels von Delphi. Daneben haben sich in den letzten Jahrhunderten Religionen und religiöse Heilslehren als phantasiebegabte Agenturen für Zukunftsszenarien erwiesen und ihren Anhängern paradiesische (oder auch höllische) Verhältnisse am Ende ihrer Geschichte verheißen.

Solche Szenarien subsumiert man unter den Begriff der Eschatologie, also unter eine prophetische Lehre von den letzten Dingen (so die direkte Übersetzung), die die Hoffnungen von Einzelnen, Gruppen, Sozietäten auf Erlösung und Vollendung aufgreift und in mehr oder minder konkrete Zukunftsbilder einfließen lässt. In den letzten einhundert Jahren haben sich neben den religiösen zunehmend säkulare Eschatologien (Kommunismus, Totalitarismus, Faschismus) etabliert, ohne dass die Versprechungen der jeweiligen Heilslehren (z.B. Herrschaft des Proletariats oder Reinheit der Rasse) Realität geworden wären – im Gegenteil: Sie haben wesentlich dazu beigetragen, aus dem 20. Jahrhundert ein Zeitalter der grausam-inhumanen Extreme (Eric Hobsbawm ) werden zu lassen.

Die eschatologischen Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen und Verheißungen haben oftmals utopischen Charakter. Unter Utopien versteht man Entwürfe von Gesellschaftsordnungen mit fiktivem Charakter. Wie die Übersetzung des Begriffs nahelegt, handelt es sich um einen ou topos, einen Nicht- oder Nirgend-Ort. Doch hat bereits Thomas Morus, der in der Schrift "Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia" (1516) diesen Terminus in die Debatte einführte, darauf hingewiesen, dass man diesbezüglich auch von einem eu topos, einem guten Ort sprechen könnte. Einen solch fiktiv-guten Ort entwarf auch Tommaso Campanella (1568-1639) mit seinem Buch "Der Sonnenstaat" (1602). 

In die Schar der skeptisch gestimmten Utopisten ist dagegen Jonathan Swift (den George Orwell enorm schätzte) mit "Gullivers Reisen" (1726) sowie Voltaire mit "Candide" (1759) einzuordnen, wohingegen im 19. Jahrhundert die Zuversichtlichen unter den Utopisten literarisch wieder die Oberhand gewannen (Robert Owen mit The Social System, 1820; Étienne Cabet mit Reise nach Ikarien, 1842; Friedrich Engels mit Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880). Bei Letzterem schlagen die utopischen Schilderungen sogar in konkrete und angeblich wissenschaftlich fundierte Handlungsanweisungen um.

Wie sehr aus ou topos ein dys topos werden kann, mussten im 20. Jahrhundert vor allem die Völker Europas leidvoll erfahren; Millionen Menschen kamen im Gefolge von totalitären Versprechungen ums Leben. Die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft und einer Herrschaft des Proletariats hat sich als ebenso widersinnig-inhuman-destruktiver Totalitarismus erwiesen wie die faschistischen Utopien (z.B. mit dem Ziel der reinen Rasse) in Deutschland, Spanien, Italien und anderswo.

Diese wahnwitzigen Entwicklungen wurden im 20. Jahrhundert von manchen Schriftstellern eindrücklich kommentiert respektive von ihnen vorhergesagt. Drei Autoren sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: der russische Autor Jewgenij Samjatin (1884-1937) mit seinem Roman "Wir" (1924); Aldous Huxley (1894-1963) mit seiner Dystopie "Brave New World" (1932) sowie George Orwell mit "Animal Farm" (1944) und "Nineteen Eighty-Four" (1949). 

Orwell kannte sowohl den Text von Samjatin als auch den Roman von Huxley. Spuren dieser Dystopien finden sich in 1984, wobei Orwell den Hedonismus, der bei Huxley als wesentlich für die totalitäre Manipulation von Menschen geschildert wird, in den politischen Konsequenzen als weniger relevant erachtete. Nicht so sehr smarte Methoden (Drogen, Tranquilizer, Hormone), sondern hart-brutale Sadismen, wie Arthur Koestler sie in "Sonnenfinsternis" (1940) beschrieben hatte, schienen Orwell den Totalitarismus am adäquatesten zu charakterisieren.

Neunzehnhundertvierundachtzig II.

Womit wir zu Orwells Roman kommen. Anders als bei den meisten anderen Sciencefiction-Texten verlegte der Dichter die Handlung und die Rahmenbedingungen seines Werks nicht in weitentfernte Zeiten und Zonen, sondern relativ dicht an seine Gegenwart (35 Jahre nach Publikation des Romans) und mitten nach Europa (England). Neben einer dystopischen Note erhielt der Text damit auch einen tagespolitisch-aktuellen Diagnose-Charakter – eine Qualität, die von Orwell durchaus gewollt und beabsichtigt war. 

Eigenen Aussagen zufolge trug der Dichter das Thema von "Nineteen Eighty-four" bereits seit seinen Erlebnissen im Spanischen Bürgerkrieg in sich. Damals hatte er sich vorgenommen, eine grundsätzliche Kritik am Totalitarismus zu verfassen, die sich nicht nur auf den Bolschewismus und Sowjet-Kommunismus oder auf den Faschismus und Nationalsozialismus, sondern auf jegliche Formen und zukünftigen Spielarten von totalitärer Herrschaft beziehen sollte. 

Als überzeugter Sozialist war Orwell zwar sein ganzes Erwachsenenleben über an einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Großbritannien und Europa und weltweit interessiert. Wofür er in dieser Hinsicht jedoch niemals zu begeistern war, das waren und sind jene religiösen oder säkularen Heils- und Erlösungsversprechen, die den Menschen Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit für morgen versprechen und dafür heute den Opfergang und die Eliminierung von Millionen und Abermillionen Individuen fordern und durchsetzen. 

© Jörg Brüggemann

"Nineteen Eighty-Four" sollte ein Roman werden, der wie eine große Warnung vor solchen totalitären Überlegungen und Experimenten wirkt. Die Sowjetunion unter Stalin gehörte dabei ebenso wie die faschistischen Regime in Europa oder wie alle zukünftigen autoritativ-autokratischen Herrschaftsformen weltweit zu den von Orwell kritisierten politischen Phänomenen. Angesichts des unsäglichen Leids, das die utopischen Erzählungen im 20. Jahrhundert mit verursacht haben, ist man dem Dichter zufolge gut beraten, allen Totalitarismen mit unerschütterlich-standhafter Skepsis zu begegnen. Eschatologische Zukunftsvisionen haben in der Geschichte der Menschheit überwiegend zu Destruktivität und Inhumanität beigetragen – ganz gleichgültig, ob sie religiöser oder säkularer Natur gewesen sind.

In "Nineteen Eighty-Four" schildert Orwell einen komplett durchorganisierten Überwachungsstaat, der sich als der Große Bruder geriert und seine Bürger mit systematischer Gehirnwäsche und fake news zu willigen Gefolgsleuten und dumpf-willenlosen Automaten macht. Big Brother is watching you – so lautet eine der fundamentalen Gewissheiten in diesem Staat, dessen Propaganda von einem Wahrheitsministerium mit Formulierungen wie „Krieg bedeutet Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke“ (George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 30) umgesetzt wird, und der mittels Neusprech und Doppeldenk auch noch den allerletzten Rest von Rationalität und Common sense beim Einzelnen wie bei Gruppierungen auszuradieren imstande ist.

Der Held des Romans heißt Winston Smith; wir befinden uns in London einige Jahre nach der Großen Revolution. Die Revolte hat den Großen Bruder an die Macht gebracht und mit ihm ein totalitäres Regime, das dauernd Kriege auf dem Erdball führt und die Bevölkerung des Inselreichs ausbeutet und verdummt. Eine perfekte Technik mit Tausenden von Televisoren ermöglicht es, dass jedermann mit Propaganda infiltriert sowie beobachtet und kontrolliert wird. Längst schon gibt es keine Privatsphäre mehr; alle Individuen gehören vollständig dem Kollektiv, das es übernommen hat, die Menschen zur angeblichen Freiheit zu führen – eine Freiheit, die in einer fernen Zukunft liegt, und für die vorerst alle Untertanen unter einer ausgeklügelten Knechtschaft leben müssen.

© Jörg Brüggemann

Drei Machtkomplexe – Ozeanien, Eurasien und East-Asia – haben die Welt unter sich aufgeteilt und führen ständig Krieg miteinander. Die Gesellschaft in Ozeanien, wozu England gehört, ist in drei Klassen aufgeteilt. Es gibt eine innere Partei, die als politisch-intellektuelle Elite an der Herrschaft ist. Sie umfasst zwei Prozent des Volkes; an ihrer Spitze steht der Große Bruder, dem man Allwissenheit, Allmacht, Allgüte (die Prädikate Gottes) zuschreibt. Der Große Bruder begibt sich nie an die Öffentlichkeit; sein Bild ist überall zu sehen, und er genießt religiöse Verehrung. 
Wo es einen Gott gibt, muss es auch einen Teufel geben. Das ist der angebliche Kollektivfeind Emmanuel Goldstein (an Trotzki und die amerikanische Anarchistin Emma Goldstein erinnernd).

Goldstein wird zu einem dämonischen Widersacher aufgebaut, der für alle Missstände verantwortlich gemacht wird, und den alle Menschen Ozeaniens hassen müssen. Der Führungskaste (also der inneren Partei) angegliedert ist eine äußere Partei, die aus dreizehn Prozent des Volkes besteht. Diese Hilfskräfte dienen der herrschenden Gruppe, um die übrige Bevölkerung (die Proles) zu indoktrinieren und irrezuführen. 

Zu diesem Zwecke wurde ein gigantischer Verwaltungs- und Polizeiapparat aufgebaut. Es gibt ein Wahrheitsministerium, an dem in gewaltigen Lettern die grandiosen Weisheiten zu lesen sind: Krieg bedeutet Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke! Mit solchen Parolen werden die Bürger erzogen, gedrillt und programmiert. Kinder werden daraufhin geschult, ihre Umgebung (auch die Familie) auszuspionieren und bei der Partei anzuzeigen; besonders geschätzt sind jene jugendlichen Pioniere, die die eigenen Eltern des mangelnden Konformismus bezichtigen und deren Verurteilung zu Gefängnis oder Todesstrafe herbeiführen.

Das Regime hat die Liebe abgeschafft; die Parteimitglieder zeugen wohl Kinder, aber sie verlieben sich nicht mehr, da ihre ganze Sympathie und Leidenschaft der Partei gehört. Der Staat befindet sich im Niedergang, dafür aber siegt er an allen Fronten, wie ausführliche Radio- und Televisionsprogramme beweisen. Da an den fernen Fronten gekämpft wird, darf niemand in der Heimat Skepsis oder Ungeduld verbreiten oder gar Forderungen stellen; jeder muss zufrieden sein, sonst wird er vaporisiert – was so viel wie Todesstrafe oder Vernichtung bedeutet.

Winston Smith gehört der äußeren Partei an und ist ein belangloser Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums. Man hat ihm die Aufgabe zugeschanzt, die Geschichte dauernd umzuschreiben, damit der Große Bruder recht hatte, recht hat und auch in Zukunft recht haben wird. Alte Meldungen aus Zeitungen werden eliminiert und Bücher werden immer neu gedruckt, damit sie dem labyrinthischen Lauf der Politik des Staates und seiner Führer gerecht werden. Wahrheit gibt es nicht mehr und soll es nicht mehr geben – stattdessen wird täglich neu bestimmt, was als wahr gilt; diese Neubestimmung erstreckt sich auch auf die Vergangenheit.

Winston funktioniert reibungslos, bis er eines Tages auf die Idee verfällt, ein Tagebuch zu schreiben. Er hat bei einem Antiquar im Proles-Quartier altmodische Schreibutensilien erstanden, die in ihm nostalgische Erinnerungen an sein früheres Leben erwecken – vor allem an seine Mutterbeziehung, bei der er Warmherzigkeit und Solidarität erlebt hat. Da in ihm Gefühle für veraltete Werte wie Individualität, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit aufsteigen, gerät er ins kritische Reflektieren, wobei er die Gesellschaftsordnung zunehmend als fragwürdig und inhuman empfindet. 

So zweifelt Winston mit der Zeit an den ihm aufgetragenen berufsmäßigen Wahrheitsfälschungen, beteiligt sich nur noch halbherzig an verordneten Hass-Wochen und sieht mit Abscheu die Kriegsberichterstattungen, in denen der Tod unzähliger Feinde gezeigt wird. Eine unerlaubte Liebschaft mit einer Parteigenossin namens Julia und der Versuch einer Konspiration gegen die Staatsgewalt bringt Winston schließlich zu Fall. Nachdem er bei einer Liebesnacht in flagranti ertappt wird, verbringt man ihn in Geheimkeller, wo gefoltert und umerzogen wird.

Das nun folgende Martyrium der beiden Liebenden erinnert an Furchtbarkeiten der Gestapo- und Tscheka-Methoden. Winston unterliegt einer Gehirnwäsche, die mit elektrischer Folter und Persuasion verbunden ist. Nach einer gewissen Zeit ist er endlich in der Lage, den Großen Bruder vorbehaltlos und von Herzen zu lieben; er hat alle Einwände und Kritiken gegen ihn vergessen und nun weder die Kraft noch die Einsicht, um Opposition zu empfinden oder diese sogar zu praktizieren. Man kann ihn als geheilt entlassen, wiewohl es Usus ist, auch geheilte Genossen zu vaporisieren, da man nie wissen kann, ob sie nicht rückfällig werden. 

Während der Behandlung Winstons durch O’Brien, einem Mitglied der inneren Partei, der die Mitglieder der äußeren Partei auf ihre Gedankenverbrechen hin untersuchen und gegebenenfalls umerziehen soll, kommt es nach grausamsten Folterszenen zu einer scheinbar entspannt wirkenden Unterhaltung und einem aufschlussreichen Dialog zwischen den beiden. Der Letztere erlaubt dem Ersteren, ihm alle nur erdenklichen Fragen zu stellen, woraufhin Winston sich traut, einiges wissen zu wollen:

"„Existiert der Große Bruder?“ „Natürlich existiert er. Die Partei existiert. Der Große Bruder ist die Verkörperung der Partei.“ (antwortet O’Brien) „Existiert er so, wie ich existiere?“ „Sie existieren nicht“, sagte O’Brien." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 264

Niemand existiert mehr in "Nineteen Eighty-Four", und auch die Partei scheint eine Organisation lediglich von Pseudo-Existenzen zu sein. Winston ist schließlich bereit zu glauben, dass zwei und zwei gleich fünf ist; es kostet ihn keine Anstrengung mehr, die Vernunft aufzugeben. Er trifft die ehemalige Geliebte wieder, von der er inzwischen erfahren hat, dass sie ihn angesichts der Folterknechte verraten hat; er ist nicht mehr imstande, etwas zu fühlen. Julia, deren Gesicht eine einzige Wüste geworden ist, ergeht es ebenso – von ihrer früheren Lebendigkeit und erotischen Ausstrahlung (von der die Orwell-Biografen meinen, dass dafür das Naturell Sonia Brownells Modell gestanden hat) ist ebenso wenig übriggeblieben wie von ihren intellektuellen und emotionalen Qualitäten.

Dafür aber können nun beide früher Liebende erfolgreich hassen und sich für die Destruktion begeistern. Siege an der eurasischen oder ostasiatischen Front beglücken die zerbrochenen Menschen und binden sie fester an den Großen Bruder, dem sie – wie sie wissen – alles zu verdanken haben. Zuletzt sind nicht nur die Gedanken Winston Smiths, sondern auch alle seine Emotionen „bereinigt“: „Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“ (George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 302)

Neunzehnhundertvierundachtzig III.

Soweit die summarische Inhaltsangabe des Romans, dessen detaillierte Lektüre lohnt, weil sein Autor in die dystopischen Passagen immer wieder Szenen einer Hoffnung vermittelnden Mitmenschlichkeit eingestreut hat, die den Text bei aller punktgenauen und decouvrierenden Kritik am Totalitarismus keineswegs zu einem Manifest der puren Verzweiflung werden lässt. So wie das gesamte Werk Orwells ein Zug von skeptisch-pessimistischer Zuversicht durchzieht, spürt man als Leser auch von Nineteen Eighty-Four, dass der Dichter trotz aller Inhumanität in der Geschichte der Menschheit an das potenziell Menschliche im Menschen stets geglaubt hat. 

Wohlgemerkt: Er glaubte an Individuen, nicht aber an Institutionen, Staaten, Ideologien – und dies doppelt nicht, sobald sich diese aufschwingen, im Besitz der Wahrheit zu sein und diese ihre Wahrheit als alleinseligmachende und relevante gegen Zweifel und Gegenargumente durchzusetzen. Ähnlich wie er dies mit dem Wahrheitsministerium in "Nineteen Eighty-Four" beschrieben hat, registrierte er bei den totalitär und autoritativ regierten Staaten seiner Gegenwart, dass sie und wie sie die geschichtliche und gesellschaftlich-soziale Wahrheit im großen Stil mit Füßen traten. Statt einer redlichen Auseinandersetzung mit Verfehlungen der Vergangenheit und mit himmelschreienden Defiziten der Jetztzeit dominierten bei ihnen Geschichts-Klitterung und offenkundige Lügen, die heutzutage als Fakenews oder als „alternative Wahrheiten“ bezeichnet werden:

"Die von Totalitären organisierten Lügen sind nicht, wie oft behauptet wird, vorübergehende Hilfsmittel wie etwa die Kriegslist bei militärischen Operationen. Es sind integrierende Bestandteile des Totalitarismus, etwas, was weiterbestehen wird, auch wenn Konzentrationslager, Geheimpolizei sich nicht mehr als notwendig erweisen würden… Vom totalitären Standpunkt ist Geschichte eher etwas, das immer neu geschaffen statt gelehrt werden muss. Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie, und seine herrschende Klasse muss als unfehlbar erscheinen, um ihre Position zu behaupten." George Orwell: "Zur Verhinderung von Literatur" (1946), in: Rache ist sauer – Essays, Zürich 1975, S. 83f.

Als eine Hauptaufgabe von Künstlern, Medienleuten, Journalisten, Philosophen, Wissenschaftlern und Intellektuellen erachtete es Orwell, der Wahrheit – soweit sie denn dem Einzelnen zugänglich ist – zum Ausdruck und zum Durchbruch zu verhelfen. Schon während seines Engagements im Spanischen Bürgerkrieg hatte er massive Lücken einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung bei seinen Kollegen bemerkt. Insbesondere die unter Intellektuellen weitverbreitete Bewunderung der angeblichen Errungenschaft in der UdSSR sorgte dafür, dass die millionenfachen Grausamkeiten der Stalin-Ära von westlichen Berichterstattern entweder nicht zur Kenntnis genommen oder bagatellisiert, beschönigt wurden. Von intellektueller Redlichkeit waren diese Berichterstatter jedenfalls meilenweit entfernt.

© Jörg Brüggemann

Mit "Nineteen Eighty-Four" wollte Orwell jener Hauptaufgabe von Intellektuellen nachkommen, die er auch in vielen seiner Essays beredt eingeklagt hat: Entweder den Tatsachen zu ihrem Recht zu verhelfen, indem man sie ausspricht und in ihrer Werthaltigkeit respektive in ihrer Wertlosigkeit, Absurdität einordnend benennt; oder aber das eigene Nicht-Wissen und die eigene Ratlosigkeit im Hinblick auf die Wirklichkeit transparent zu machen. So zu tun, als wüsste man um die wahren Verhältnisse, ohne sie tatsächlich zu durchschauen, kommt einem Verrat an der Realität gleich und leistet totalitären und autoritativen Tendenzen Vorschub.

Das Erodieren von Fakten und wahren Begebenheiten kann in seinen Folgen für eine Sozietät und für das Gemeinwohl nicht drastisch genug ausgemalt werden. Was im privaten zwischenmenschlichen Bereich als Mogelei oder Lüge imponiert und eventuell zum Vertrauensschwund und Misstrauen zwischen den Betroffenen beiträgt, kann im öffentlichen Leben der Sozietät zu regelrechter Bindungslosigkeit und zur Vereinzelung ihrer Mitglieder führen. Eine gemeinsame, auf Tatsachen und nicht auf Wunschdenken oder paranoiden Feindbildern basierende Geschichte und Gegenwartssituation wirkt wie ein intellektuelles, emotionales und soziales Bindemittel zwischen den Bürgern eines Staates. Fehlt dergleichen oder wird dies systematisch durch Lügen, Vertuschungen, alternative Fakten, Verleumdungen von Wissenschaft und Philosophie, Missgunst sowie üble Nachrede in Frage gestellt, zerbricht irgendwann der kollektive Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich Politik, öffentliche Debatte, Demokratie, Mehrheitsentscheidungen, Minderheitenschutz auf konstruktive und dialogische Weise ereignen.

Von daher ist es keine Bagatelle oder ein zu vernachlässigendes Phänomen, wenn Parteien oder Sekten oder „Wutbürger“, emotionalisierte Gruppierungen oder sogar die Herrschenden eines Staatswesens historische Gewissheiten oder wissenschaftliche Erkenntnisse negieren oder verhöhnen. Mit solchen Haltungen verunmöglichen sie einen rationalen zwischenmenschlichen Diskurs ebenso wie aufgeklärt-emanzipiertes Denken, das Winston sich partout erhalten möchte:

"Das Handgreifliche, das Einfache und das Wahre mussten verteidigt werden. Binsenwahrheiten sind wahr, daran wollte er festhalten! Die stoffliche Welt ist vorhanden, ihre Gesetze ändern sich nicht. Steine sind hart, Wasser ist nass, jeder Gegenstand, den man loslässt, fällt dem Erdmittelpunkt zu… Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewährleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 85

Menschen geraten in massivste Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst, sobald sie systematisch und über längere Zeit hinweg das Wahre als falsch und das Falsche als wahr erläutert bekommen. Nicht nur gibt es, wie Theodor W. Adorno dies in seinen "Minima Moralia" (1951) formuliert hat, kein richtiges Leben im falschen – es gibt auch kein solidarisches, menschliches, empathisches, behaglich-geborgenes Leben mehr. Alle banalen, einfachen Sicherheiten und alles Verlässliche haben ihre Gültigkeit verloren; stattdessen regiert bei Einzelnen und im Kollektiv das starke Bedürfnis nach Anlehnung an den Großen Bruder, an seine Wahrheiten und seine Macht, so simpel und unwahrscheinlich und falsch und unmenschlich er sich auch immer zu gerieren versteht. Die fast unlösbare Aufgabe, schreibt Adorno, besteht deshalb darin, sich weder von der Macht der anderen (des Großen Bruders oder der Partei) noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen (Theodor W. Adorno: "Minima Moralia" (1951), Frankfurt am Main 1993, S. 67).

Neunzehnhundertvierundachtzig IV.

Nicht zu verdummen, sondern im Gegenteil selbständig denken, fühlen und handeln zu können, erfordert den einigermaßen souveränen und uneingeschränkten Gebrauch der Sprache. Denken, Phantasieren, Entwerfen, Planen, Urteilen, Wollen und in mancher Hinsicht auch Fühlen (nicht jedoch heftige Affekte) sind mit Begriffen, Worten, Sätzen assoziiert und können größtenteils nur sprachlich verwirklicht werden. Sprechen, Denken und Urteilen fallen häufig in eins, und Ludwig Wittgensteins Formulierung aus seiner "Logisch-philosophischen Abhandlung" (1921) – „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“  – hat in den letzten einhundert Jahren zu Recht viel Zustimmung erfahren. 

Umso perfider wirkt es, wenn (totalitäre) Staaten und ihre Lenker in den aktiven und passiven Wortschatz ihrer Bürger limitierend eingreifen und so deren Denken, Fühlen, Urteilen und Handeln massiv beeinflussen und beschneiden. Sehr bekannt geworden ist in dieser Hinsicht das Buch "Lingua Tertii Imperii (LTI)" des Romanisten Victor Klemperer, das – 1947 erschienen – die Sprache des Nationalsozialismus bis ins Detail darstellt und erläutert. Klemperer konnte zeigen, wie sich sowohl der Klang der deutschen Sprache (härter, metallischer) veränderte als auch diverse Begriffe (BdM = Bund deutscher Mädel; KdF = Kraft durch Freude; Reinheit des Blutes; Volk ohne Raum; heldenhaft; gleichschalten; Gefolgschaft; körperliche Ertüchtigung; total) in den Jahren der faschistischen Herrschaft in Deutschland so in Umlauf kamen, dass diejenigen, die sie benutzten, zuletzt bedeutend härter und metallischer dachten, fühlten und handelten als früher.

In "Nineteen Eighty-Four" ließ Orwell die Mitglieder der inneren Partei immer wieder neue Wörterbücher entwickeln, mit deren Hilfe sie den Wortschatz und damit das Denken, Fühlen, Handeln der Mitglieder der äußeren Partei sowie der Proles determinierten. Sie wussten und spürten: Wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert schlussendlich das Innenleben der Menschen, ohne dass es dafür noch eine gesonderte Gedankenpolizei bräuchte. 

Denn wenn Worte und Begriffe fehlen, mangelt es irgendwann an Gedanken und Gefühlen und zuletzt auch an manchen Handlungen und Taten von Solidarität und gegenseitiger Wertschätzung:

"Der Wortschatz A bestand aus den für das tägliche Leben benötigten Worten … wie Essen, Trinken, Arbeiten, Anziehen, Treppensteigen, Eisenbahnfahren, Kochen und dergleichen. Er war fast völlig aus bereits vorhandenen Worten zusammengesetzt wie schlagen, laufen, Hund, Baum, Zucker, Haus, Feld – aber mit dem heutigen Wortschatz verglichen, war ihre Zahl äußerst klein und ihre Bedeutung viel strenger umrissen. Sie waren von jedem Doppelsinn und jeder Bedeutungsschattierung gereinigt. Es wäre ganz unmöglich gewesen, sich des Wortschatzes A etwa zu literarischen Zwecken oder zu einer politischen oder philosophischen Diskussion zu bedienen." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 304

Lyrisch-poetische, musikalische, magisch-verzaubernde, ästhetisierende Begriffe waren ebenso wie aufklärerische, emanzipierende oder wertorientierte Termini schlicht verboten oder obsolet – in den Wörterbüchern tauchten sie nicht mehr auf, und in Zeitungen, Zeitschriften, Verlautbarungen suchte man vergebens nach ihnen: „Worte wie Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Internationalismus, Demokratie, Wissenschaft und Religion gab es ganz einfach nicht mehr… Alle mit den Begriffen der Freiheit und Gleichheit zusammenhängenden Worte zum Beispiel waren in dem einzigen Wort Undenk enthalten.“  

Analog zu totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, die knackige Abkürzungen gebrauchten, um enorm destruktive Sachverhalte verharmlosend auszudrücken (Nazi, Gestapo, Komintern, Agitprop), verfuhren die Sprachschöpfer in "Nineteen Eighty-Four". So lesen wir von Miniwahr (Wahrheitsministerium, in dem Wahrheit systematisch verfälscht wird), von Engsoz (Englischer Sozialismus), von Minipax (Friedensministerium, das permanent Kriege plant und sie befehligt), Lustlager (Zwangsarbeitslager), Prolefutter (jene Lustbarkeiten und verlogenen Nachrichten, mit denen die Proles, also die Massen, abgespeist wurden). Jedem in der neueren deutschen Geschichte halbwegs Informierten wird parallel zu derartigen Sätzen und Begriffen jene Aufschrift am Tor des Konzentrationslagers von Auschwitz in den Sinn kommen, die zum Ausdruck des inhumansten Zynismus geworden ist: „Arbeit macht frei.“

© Jörg Brüggemann

Wir unterschätzen gemeinhin, wie sehr unsere intellektuellen und emotionalen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten von den sprachlichen Verhältnissen um uns her und schließlich auch von unseren persönlichen sprachlichen Möglichkeiten abhängen. Dies betrifft vor allem die inhaltlichen Aspekte, von denen im Roman deutlich wird, wie sehr es sich bei sehr vielen Bezeichnungen um eine regelrechte Sprachverwirrung handelt. Wenn ein Wahrheitsministerium für die systematische Verfälschung von Wahrheiten und ein Liebesministerium für Foltermethoden von „Gedanken-Verbrechern“ zuständig ist, steht man als Gut- und Sprachgläubiger am Abgrund eines Sprach- und Welt-Chaos.

Ernst Cassirer, der in der "Philosophie der symbolischen Formen" (1923ff.) neben Technik, Kunst, Mythos, Wissenschaft auch die menschliche Sprache als eigenen Symbolbereich untersuchte, hat darauf hingewiesen, wie sehr bei ihr im günstigen Fall die Funktionen von Ausdruck, Darstellung, Bedeutung einander entsprechen. Das Empfinden von Heimat und Verlässlichkeit hinsichtlich des Sprachraums, in dem wir uns bewegen, stellt sich nur ein, wenn sich Kohärenz ergibt zwischen der inhaltlichen Bedeutung von Worten oder Sätzen sowie der Art und Weise, wie sie ausgedrückt und dargestellt werden.

In "Mythus des Staates" (1946) zeigte Cassirer, dass eben diese Kohärenz beim sprachlichen Symbolgebrauch während des Nationalsozialismus in Deutschland nicht gewährleistet war. Im Gegenteil: Die Sprache während der faschistischen Herrschaft veränderte sich im Sinne eines mythologischen Erlebens und eines Überwiegens ihrer magischen Funktionen. Daneben nahm die deutsche Sprache einen mechanistischen, gefühlskargen Klang an. Eng mit bestimmten Begriffen verknüpft waren die dröhnende und unmelodisch-schnarrende Stimme (Ausdruck) sowie die Riten (Darstellung), die den Faschismus zur mythologischen Bewegung machten. Vom Heil-Hitler-Gruß über die Ornamente und die Fackelumzüge bis hin zu den Massenaufmärschen überließ der Nationalsozialismus nichts dem Zufall, sondern plante penibel jene affektstimulierenden Bilder, die die Massen in Taumel und Verzückung versetzten. 

Bei den sprachlichen Besonderheiten und „Qualitäten“, die Orwell in "Nineteen Eighty-Four" dem Totalitarismus zuschrieb, handelt es sich – vergleicht man sie mit der Sprache etwa des Dritten Reichs – keinesfalls um Übertreibungen. Termini wie germanische Rasse, Blut und Boden, Führer, Volk und Vaterland, der Lebensraum im Osten oder die Wacht am Rhein wurden mit ihrer diffusen Unbestimmtheit und harmlos klingenden Hülle von den nationalsozialistischen Herrschern scham- und mitleidlos dazu benutzt, barbarischste und inhumanste Inhalte in gigantischem Ausmaß unters Volk zu streuen; bei Orwell lesen wir entsprechend dazu:

"Die einzelnen Worte … gewannen noch an Ausdruckskraft, indem sie einander fast alle sehr ähnlich waren (Gutdenk, Minipax, Lustlager, Engsoz, Intusfühl, Denkpoli)… Durch ihre Verwendung entwickelte sich ein rednerischer Stil, der zugleich zackig, hohltönend und monoton war." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 308

Neunzehnhundertvierundachtzig V.

Wo Worte, Begriffe, Beschreibungen fehlen, fehlen irgendwann auch Gedanken, Konzepte, Zusammenhänge; wo solche Ideen fehlen, mangelt es irgendwann auch an Sinn, Wert und Bedeutung; und wo derlei fehlt, mangelt es bald schon an differenzierten Gefühlen. An ihre Stelle treten in der Regel undifferenzierte Emotionen, die oft als Affekte in Erscheinung treten.

"Nineteen Eighty-Four" kann als Roman gelesen werden, der vom Verlust subtiler Wertaspekte und entsprechender Gefühle handelt – und als ein Roman, in dem dieser Verlust zu Affekten aller Art, vor allem zu Aggression, Destruktion und Hass, aber auch zu Angst und Paranoia führt. Insbesondere der Hass (auf Emmanuel Goldstein, auf den Kriegsgegner, auf Gedankenverbrecher etc.) wurde in Ozeanien für alle Bewohner zum Kardinal-Affekt, den sie täglich (z.B. als Zwei-Minuten-Hass) oder aber konzentriert während der sogenannten Hass-Wochen einzuüben und zu verstärken hatten:

"Das Schreckliche an der Zwei-Minuten-Hass-Sendung war nicht, dass man gezwungen wurde mitzumachen, sondern im Gegenteil, dass es unmöglich war, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Eine schreckliche Ekstase der Angst und der Rachsucht, das Verlangen, zu töten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern, schien die ganze Versammlung wie ein elektrischer Strom zu durchfluten, so dass man gegen seinen Willen in einen Grimassen schneidenden, schreienden Verrückten verwandelt wurde." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 17f.

Orwell beschrieb den Hass wie auch andere Affekte sehr treffend hinsichtlich ihrer individual- und sozialpsychologischen sowie axiologischen (Axiologie = Wertlehre) Ursachen und Konsequenzen. Das Ziel des Hass-Affekts liegt in der Elimination des jeweiligen Hass-Objekts – gleichgültig, ob es sich dabei um Einzelne (wie Goldstein) oder um ganze Kontinente und ihre Bewohner (wie etwa Eurasien oder East-Asia als Kriegsgegner mitsamt ihren Armeen und Bürgern) handelt. Derart massive Affekte wirken gemeinhin ansteckend bis zur Raserei und zum passageren Verlust jeglicher Rationalität und Vernunft. 

Zugleich lösen solche immens destruktiven Affekte (und Handlungen) bei den Betreffenden im Gegenzug enorme Ängste bis hin zu paranoiden Überzeugungen aus. Wer andere mit maßlosem Hass und ebensolcher Destruktivität überzieht, muss damit rechnen, selbst nicht nur aktiv-handelndes Subjekt derartiger Affekte zu sein, sondern sich irgendwann in der Rolle eines passiv-erleidenden Objekts wiederzufinden, das die affektive Wucht dann am eigenen Leib verspüren muss.

Affekte wie Hass und Zerstörungswut einerseits sowie Angst und Paranoia andererseits können innert kurzer Zeit differenziert und empathisch fühlende und denkende Individuen in eine undifferenziert und irrational empfindende und nicht selten demensprechend handelnde Masse verwandeln. Herrschende in totalitären Staaten oder Politiker, die es darauf anlegen, ihr Staatswesen dem Totalitarismus anzunähern, induzieren häufig und wiederholt beiderlei Affekt-Qualitäten bei den Bewohnern ihrer Länder – damit werden diese leicht manipulierbar und eventuell zu völlig willenlosen Werkzeugen einer Führungsclique.

So sehr Einzelne sich im kollektiven Affekt als zugehörig zur konformen Masse und damit als mächtig und expansiv erleben, so sehr empfinden sie sich nach dem Abflauen der Affekte als vereinzelt und vereinsamt. Die affektive Verbindung stellt sich als ephemeres Phänomen heraus; die Kohärenz der Betreffenden fußte nicht auf Empathie oder Sympathie, sondern auf Imitationsverhalten und emotionaler Ansteckung. 

Sobald Hass, Wut oder Destruktionsimpulse in einer Massensituation weniger werden, beginnen Massen auseinanderzufallen, und die Einzelnen finden sich als alleingelassen und nicht selten rat- und orientierungslos wieder. In ihrem Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951) hat Hannah Arendt dieses Phänomen als eine wesentliche Dynamik beschrieben, die generell in und nach Massensituationen wie auch in totalitären Staaten häufig zu beobachten ist:

"Verlassenheit entsteht, wenn … miteinander verbundene Menschen plötzlich auf sich selbst (zurückgeworfen werden) ... In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und ... Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde." Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951), München 2011, S. 977

Die Verlassenheit war für Arendt eine Hauptursache für die Entstehung und leichte Verführbarkeit von Massen in totalitären Herrschaftssystemen. Verlassene, allein gelassene Menschen, die sich auf nichts und niemanden mehr stützen können, rotten sich leichter als die in sicheren Verhältnissen Lebenden zu Massen und zum Mob zusammen. 

Verzweiflung und kopflos-blinde Begeisterung sind dominierende Affekte, die dazu beitragen, aus Personen willige Gefolgsleute dubioser politischer Rattenfänger und Gehilfen von aggressiv-destruktiven Herrschenden werden zu lassen. Verlassenheit und die damit meist einhergehende Angst und existentielle Unsicherheit mobilisiert die Massen, die vernunftlos agierend wahnwitzige Pläne diktatorischer Führer in grausame Wirklichkeit zu transponieren in der Lage sind.

Ähnlich angstmindernd wie rezidivierende massenpsychologische Situationen (z.B. die täglichen Zwei-Minuten-Hass-Sendungen) wirkt zumindest für gewisse Zeit das Empfinden, als Individuum einer Ingroup anzugehören und sich von den Outsidern, den Fremden, Anderen, Gegnern, Feinden abzugrenzen. Totalitären Regimen fällt es unter Verweis auf ihre jeweiligen Ideologien meist nicht schwer, derartige Feindbilder zu kreieren und aufrechtzuerhalten. 
In Nineteen Eighty-Four sind es abwechselnd Eurasien und East-Asia, die sich als feindliche Outsider anbieten, wobei es völlig gleichgültig erscheint, welche der beiden Supermächte gerade als Hauptfeind an Nummer eins rangiert. 

So beginnt bei einer Großveranstaltung der Redner mit seiner Hass-Polemik gegen Ostasien als Kriegsgegner, um nur einige Minuten später – soeben hatte man ihm einen Zettel mit aktuellen Neuigkeiten zugesteckt – umzuschwenken und Eurasien als Feind und Gegner zu attackieren: „Noch eine Minute, und die wilden Wutschreie brachen erneut aus der Volksmenge hervor. Die Hassdemonstration nahm genau wie vorher ihren Fortgang, nur dass die Zielscheibe sich geändert hatte.“ (George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 185)

Hannah Arendt auf dem 1. Kulturkritikerkongress, 1958

© Barbara Niggl Radloff, CC BY-SA 4.0

Neunzehnhundertvierundachtzig VI.

Bei so vielen und massiven Affekten wirkt es in "Nineteen Eighty-Four" geradezu erholsam auf Romanpassagen zu stoßen, bei denen keine destruktive und nihilistische oder sinnwidrige Emotionalität, sondern eine wohlwollend-anerkennende, ja sogar erotische Gefühlswelt im Vordergrund steht. Orwell hat solche Gefühlsqualitäten in die Beziehung zwischen Winston und Julia, teilweise aber auch in das Erleben von Winstons Umwelt (der Natur) und in manche seiner zwischenmenschlichen Begegnungen verlegt. 

Ich habe bereits erwähnt, dass es den Gesetzmäßigkeiten Ozeaniens entsprach, Liebesbeziehungen sowohl hinsichtlich ihrer Emotionalität (Anerkennung, Würde, Zuneigung, gegenseitige Hilfe und Förderung, etc.) als auch in Bezug auf Intimität und Sexualität möglichst komplett zu untersagen. Zwar war das naturhafte Zeugen von Kindern noch erlaubt und galt als gewisser Wert, weil damit der Nachwuchs beispielsweise von Proleten gesichert war; die Tendenz ging aber dahin, möglichst viele Kinder durch künstliche Befruchtung zu zeugen. Kam es dennoch zu sexuellen Kontakten (zum Zwecke der Zeugung), sollten diese ohne übermäßige Zuneigung, ohne Erotik und Leidenschaft und ohne größeren Lustgewinn vonstattengehen:

"Das Ziel der Partei war nicht nur, das Zustandekommen enger Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu verhindern, die sie vielleicht nicht mehr übersehen konnte. Ihre wirkliche, unausgesprochene Absicht ging dahin, den sexuellen Akt aller Freude zu entkleiden… Der Geschlechtsakt selbst hatte als eine unbedeutende und leicht anrüchige Sache zu gelten, wie ein Klistier… Es gab sogar Organisationen wie die Jugendliga gegen Sexualität, die für das vollkommene Zölibat beider Geschlechter eintraten." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 69

Man kann sich fragen, welche Rolle Orwell der Sexualität in "Nineteen Eighty-Four" zugedacht hat; und ausgehend von der Sexualität: Warum Intimität, Erotik, Anmut und Ästhetik, Genuss und Lebensfreude in Ozeanien wie auch in den tatsächlich und real existierenden autoritativ-totalitären Staaten der Erde oftmals verpönt und regelrecht tabuisiert wurden und werden oder ein Schattendasein führen?

In "Nineteen Eighty-Four" wagen sich Winston und Julia an gemeinsame Intimität und Sexualität, obwohl sie wissen, dass sie damit den Vorgaben der Partei massiv zuwiderhandeln. Dementsprechend diskret und in einem Versteck treffen sie sich und genießen ihre Freiheit der gegenseitigen Begierde, Lust und Leidenschaft. Sie entdecken jeder am anderen dessen sexual-moralische „Verderbtheit“, und sie jubilieren über den Moment, in dem Julia die rote Schärpe der Jugendliga gegen Sexualität über einen Zweig schleudert und sich mit Winston zusammen ganz dem Moment hingibt.

Für Julia und Winston bedeutet Sexualität jedoch etwas Unterschiedliches. Julia wird von Orwell als die Lebenslustigere von beiden gezeichnet; sie holt sich in den Augenblicken von Erregung und Orgasmus all das an Vitalität und authentischem Selbsterleben, was sie in den Tausenden von Hass-Minuten und Partei-Exerzitien zuvor an Selbstverlust erlitten hat. Winston hingegen als prinzipiell introvertierter und zum Grübeln neigender Mensch verknüpft ihre Sexualität sofort mit Akten der Subversion und Revolte; womöglich, so räsoniert er, könnte über die Sexualität das ganze Regime attackiert und unterhöhlt werden.

© Jörg Brüggemann

Bei einem ihrer Treffen unterhalten sich Winston und Julia nicht nur über ihre persönlichen Sexualerfahrungen, sondern auch über die gesellschaftliche Funktion von Sexualität und Sexual-Unterdrückung. Dabei stellen sie fest, dass die Partei es zwar darauf anlegt, den Bewohnern von Ozeanien deren privates Sexualleben ziemlich zu vermiesen, zugleich aber großes Engagement darin zeigt, die Sexualität als Kraft, Trieb und Energie zu nutzen und für ihre Zwecke zu modifizieren. Sexuelle Enthaltsamkeit der Einzelnen bedeutet durchaus nicht kollektive sexuelle Karenz – im Gegenteil: „Dies ganze Auf- und Abmarschieren, Hurra-Brüllen und Fahnen-Schwenken ist weiter nichts als sauer gewordene Sinnlichkeit.“ (George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 137)

Dass es sich für Orwell beim Thema der Sexualität keineswegs nur um einen Akt der Kopulation handelte, ist aufgrund seiner Biografie vielfach bezeugt. Und dass die mit der Sexualität assoziierten Themen von Sinnlichkeit, Erotik und Ästhetik, Begeisterung, Intimität, Zweisamkeit, Anerkennung, Individualität, Ich-Erleben und Selbstwertstabilisierung für totalitäre Regime in der Regel als viel störender, subversiver eingeordnet werden als eine bloß triebhafte Vereinigung zweier Organismen, verdeutlichte der Autor mehrfach in "Nineteen Eighty-Four". 

So schildert er eine sexuell-intime Situation zwischen Winston und Julia, bei der sie neben Zärtlichkeiten auch ein Täfelchen Schokolade mit ihm teilt – wobei es sich um eine völlig ungewöhnliche, außerordentlich dunkel-glänzende Schokolade handelt, die im Alltag Ozeaniens nicht erhältlich war: „Schokolade war gewöhnlich ein stumpfbraunes bröseliges Zeug, dessen Geschmack, sofern man ihn überhaupt beschreiben konnte, dem Rauch eines Müllfeuers glich.“ (George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 125)

Das Täfelchen jedoch, das Julia mit ihm teilte, schmeckte exquisit, edel, vielschichtig, abenteuerlich und selten – Attribute, die für ihre Sexualität ebenso wie für ihre Beziehung Geltung beanspruchen durften, im totalitären Ozeanien jedoch nicht vorhanden waren.

Außerdem deutet das Teilen eines derart wertvollen Täfelchens Schokolade auf das Wesen gelingender Sexualität hin: Wir teilen Nähe, Lust und Leidenschaft, Zärtlichkeit und Intimität mit einem Du; wir verhelfen uns zu einem zeitweiligen Nachhausekommen im eigenen Leib; und wir teilen uns mit und tauchen ein in ein flirrend-erregendes, wortloses Gespräch. Zwei leibhaftige Freiheiten, fasziniert von der Magie ihrer nackten Gegenseitigkeit, verzichten nach und nach auf ihre Bewusstheit und suchen und finden im orgiastischen Taumel die Petite Mort, einen kleinen Tod – wie die Franzosen den Orgasmus nennen. Der Große Bruder und die Partei hingegen kannten nur La Grande Mort, den großen Tod von Hass, Krieg und Vernichtung.

In einer anderen Szene beschreibt Orwell die beiden Liebenden nach einem gemeinsamen Tête-à-Tête, bei dem es nicht nur zu Zärtlichkeiten, sondern auch zur gemeinsamen Lektüre eines verbotenen Buches (von Emmanuel Goldstein) gekommen war. Winston hat Julia etliche Seiten daraus vorgelesen, bis er bemerkt, dass sie (die er einmal spaßeshalber eine „Revolutionärin von der Taille abwärts“  genannt hat) eingeschlafen ist – woraufhin auch er einige Zeit behaglich schläft. Als beide wieder erwachen, sehen sie aus dem Fenster einer Frau im Hof zu, wie sie Wäsche aufhängt – und sind überrascht von deren herber Schönheit:

"Zusammen blickten sie in einer Art Bezauberung hinunter auf die stämmige Gestalt. Wie er die Frau in ihrer charakteristischen Haltung betrachtete, ihre dicken Arme zur Wäscheleine emporgehoben, während ihre mächtigen, an eine Stute erinnernden Hinterbacken sich wölbten, kam es ihm zum ersten Mal zum Bewusstsein, dass sie schön war." George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 223

Wer liebt, erkennt und anerkennt nicht nur im geliebten Du dessen Wertaspekte und Bedeutungshorizonte – er ahnt dergleichen auch in anderen Menschen, in der Natur, der Kunst und in vielen scheinbar banalen Alltagssituationen. Der liebende Blick (Ausdruck aus der Ethik Nicolai Hartmanns, 1926) ist seinen Möglichkeiten gemäß ein Werte freilegender Blick. Anders als im Zustand der Verliebtheit, bei der die Welt und das Du durch eine rosarote Optik betrachtet werden, handelt es sich beim liebenden Blick um eine realitätsnahe und nüchterne Betrachtungsweise. 

Warum nun die bei vielen totalitären Staaten der Vergangenheit wie Gegenwart auffällige Entwertung von Sexualität, Erotik und Intimität oder deren Perversion in massenpsychologisch-orgiastische Situationen? In Nineteen Eighty-Four jedenfalls entwarf Orwell beide Varianten, sowohl die unterdrückend-tabuisierend-strafende als auch die pervertierend-massenstimulierende. 

Mitten in eine erotisch-sinnliche Atmosphäre zwischen Winston und Julia hinein, bei der sie sich an den Gesang einer Drossel bei einem ihrer ersten Stelldicheins erinnern, zerbirst mit einem lauten Krachen ein Bild in dem Zimmer, das ihnen als geheimer Liebesort gedient hat, und von dem sie dachten, unentdeckt bleiben zu können. Hinter dem Bild wird ein Televisor sichtbar; wenige Sekunden später stürmen Männer mit schwarzen Uniformen den Raum und knüppeln für die Liebenden wie für uns Leser jegliche Träume von Erotik im Totalitarismus erbarmungslos nieder.

Neunzehnhundertvierundachtzig VII.

Warum, so habe ich gefragt, wurden und werden Sexualität und Erotik, Anmut und Ästhetik, Genuss und Lebensfreude in den real existierenden autoritativ-totalitären Staaten der Erde beinahe regelhaft und systematisch missachtet, entwertet oder tabuisiert? Wie kommt es zu den pervertierten Formen von orgiastischer Ekstase der Massen im Totalitarismus, zu den reduktiven Formen von Sexualität als bloße Reproduktions-Zeremonie oder zu den zutiefst patriarchalisch-machtorientierten sexuellen Gepflogenheiten in nicht wenigen totalitären Regimen? 

Als sich die überzeugte Feministin, Sozialistin und Volkskommissarin (für soziale Fürsorge) Alexandra Kollontai (1872-1952) nach der Russischen Revolution 1917 für eine Lockerung des Eherechts, für Mutterschutz, Schwangerschaftsabbruch, kollektive Kindererziehung sowie für freie Liebe und Sexualität engagierte, hatte sie für wenige Jahre Erfolge zu verzeichnen. In den Jahren 1918 bis 1920 machten sich Tendenzen bemerkbar, die tradierten Frauenrollen (Ehefrau, Liebespriesterin, alte Jungfer) um die Rolle der „ledigen Frau“ zu erweitern, die sich durch Autarkie im Hinblick auf ihre Berufstätigkeit, aber auch hinsichtlich ihrer Wahl von Sexual- und Liebespartnern auszeichnen sollte. Unter anderem mit ihrer Schrift "Die neue Moral und die Arbeiterklasse" (1918) trug Kollontai zur Liberalisierung von Sexus und Eros in Russland bei, so dass man seinerzeit nicht nur von der Russischen, sondern auch von einer sexuellen Revolution sprach.

Doch bereits Anfang der 20er Jahre kritisierte Lenin die Bestrebungen Kollontais als eine Glas-Wasser-Theorie. Damit desavouierte er die Volkskommissarin, als ob für sie die Sexualität belanglos und der Sexualakt beliebig wie ein Schluck Wasser sei – eine Disqualifizierung, die Lenin vornahm, um die (wie er meinte) Energien der Jugendlichen und jungen Erwachsenen von ihrer liberalisierten Sexualität weg auf die für ihn bedeutend wichtigeren Themen der fortgesetzten Revolution sowie des zukünftigen Aufbaus der Sowjetunion zu lenken.
Womit wir neuerlich bei den Usancen und dem Wesen totalitärer Staaten und Regime angekommen sind. Der Begriff Totalitarismus wurde erstmals von dem italienischen Journalisten und Politiker Giovanni Amendola (1882-1926) benutzt. Amendola, ein überzeugter Gegner Mussolinis, fiel einem faschistischen Attentat zum Opfer. In einem Artikel für die Tageszeitung Il Mondo hatte er den in Italien sich etablierenden Faschismus unter Führung Mussolinis als sistema totalitario (1923) bezeichnet. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Hannah Arendt (1906-1975) intensiv mit dem Phänomen Totalitarismus auseinandergesetzt. In ihrem Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951) vertrat sie die Ansicht, dass prinzipiell jede Weltanschauung für Zwecke totalitärer Herrschaftsformen benutzt werden kann. So dienen Rassismus, Antisemitismus, Faschismus, Kommunismus, Imperialismus dem Totalitarismus als weltanschauliche Versatzstücke, die er in möglichst allen menschlichen Lebensbereichen dominieren lässt. Wesentlich für totale Herrschaft sei, dass nicht nur das öffentliche und politische, sondern auch das private Dasein (z.B. die Sexualität) vollständig von der angeblich einzig wahren Weltanschauung durchdrungen ist. Seine Ideologie verbreitet der Totalitarismus mit grausamstem Terror bis in die Familien, die letzten Winkel eines Gemeinwesens hinein, und der Drang nach uneingeschränkter Dominanz macht an den Staatsgrenzen nicht Halt.

Das Kollektiv oder wie in "Nineteen Eighty-Four" der Große Bruder sind zu den alles bestimmenden Größen mutiert; das Individuum ist weder als Idee noch realiter mehr existent. Mit dem Verbot der Individualität gehen auch Pluralität, Initiative, Kreativität, Neuanfang, Veränderung, Freiheit, Sexualität verloren. Diese Phänomene werden von Zwängen, starren Regeln und der Wiederkehr des Immergleichen  abgelöst. 

© Jörg Brüggemann

Wer den Menschen die Möglichkeiten des Beginnens nimmt – und totalitäre Herrscher versuchen dies systematisch, um ihre Herrschaft auf Dauer oder in alle Ewigkeit zu sichern und sich selbst damit in der Illusion eines ewigen Lebens zu wiegen –, raubt ihnen nach Arendt einen wesentlichen Aspekt ihrer Existenz: die Fähigkeit zum individuell-autonomen Handeln: „Totale Herrschaft (geht darauf aus), alle Menschen in ihrer Pluralität ... so zu organisieren, als ob sie alle ... nur einen einzigen Menschen darstellten.“ (Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1951), München 2011, S. 907)

Einwände oder Bedenken gegen diese Ideologien gibt es nicht; die Einwandlosigkeit und die völlige Immunität gegenüber widersprüchlichen Erfahrungen gehören als Merkmale ebenso zu Totalitarismen wie die Verfolgung von Bedenkenträgern.

Den Totalitarismus bezeichnete Arendt als eine neuartige Form von politischer Herrschaft, deren Wesen sie mit dem Phänomen des Terrors charakterisierte. Der Terror machte sich im Dritten Reich in Bezug auf den Antisemitismus massiv bemerkbar. Die Juden eigneten sich als Inbegriff des Volks- und Rassenfeindes, auf den man jegliche eigenen Schwächen und Fehler projizierte. Daneben wurden sie einem furchtbaren Terror unterworfen, der von Ächtung und Entrechtung über Pogrome bis zum Holocaust reichte. An den Juden exemplifizierten die Nazis jenen Terror, der im Prinzip jeden treffen konnte – nicht nur den, der „anders“ war (Sinti, Roma, psychisch Kranke, Homosexuelle) oder sich dem Regime nicht vollständig unterwarf. Man kann sich die Atmosphäre von massiver Angst, Ohnmacht, Furcht ausmalen, die der Totalitarismus damit bei allen Bürgern induzierte.

Neunzehnhundertvierundachtzig VII.

In seinem Roman skizzierte Orwell eine andere, noch perfidere Spielart des totalitären Terrors. Die Partei legte es darauf an, jegliche Personalität bei den Bewohnern Ozeaniens auszulöschen und sie nur noch als bloße Person-Hüllen leben oder besser vegetieren zu lassen. Der Einzelne wurde mit Hass- und Nihilismus-Inhalten so lange angefüllt, bis er als biologisch intakter, aber geistig leerer Menschen-Automat den Großen Bruder liebte. 

Dafür tat es Not, die persönliche ebenso wie die kollektive Geschichte derart zu manipulieren, dass zuletzt nur noch die zum Totalitarismus passenden historischen Details existierten. Wie mit der Vergangenheit verfuhr man auch mit der Zukunft, und weil die Partei beanspruchte, die einzig wahre Totalerklärung der Welt zu sein, und in ihrem Namen das Ziel der Geschichte völlig transparent erschien, war es auch folgerichtig, dass der Einzelne als Diener dieser Zielsetzung honoriert oder als Störer eliminiert wurde. Als Winston von O’Brien im Liebesministerium gefoltert wird, erläutert dieser ihm generös den Sinn und Zweck der Foltermethoden sowie die völlige Aussichtslosigkeit, dem totalitären Anspruch der Partei auf Verlust der Personalität entgehen zu wollen:

"Sie sind ein Fehler im Muster. Sie sind ein Fleck, der ausgemerzt werden muss… Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn um. Wir brennen alles Böse und allen Irrglauben aus ihm aus; wir ziehen ihn auf unsere Seite, nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich, mit Herz und Seele… Bilden Sie sich nicht ein, sich retten zu können, Winston, auch wenn Sie sich uns noch so vollkommen beugen… Nie wieder werden Sie der Liebe, der Freundschaft, der Lebensfreude, des Lachens, der Neugierde, des Mutes oder der Lauterkeit fähig sein. Sie werden ausgehöhlt sein. Wir werden Sie leerpressen und dann mit unserem Gedankengut füllen."

George Orwell: "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949), Frankfurt am Main 1984, S. 261

Diese Zeilen spiegeln wider, was Orwell als die wesentliche Gefahr und zugleich als den Kern des Totalitarismus erkannt und in "Nineteen Eighty-Four" so eindrücklich und erschütternd beschrieben hat – und was ich auf den letzten Seiten über den Roman zusammengefasst habe: Totalitäre Regime sind zutiefst a-personal, Person-widrig und kompromisslos inhuman. 

Menschen bedeuten mit ihrer Vitalität (Sexualität) und Phantasietätigkeit, mit ihrem Bezug zu Vergangenheit und Zukunft, ihrer Sprach- und Symbolisierungs-Mächtigkeit und ihrer potenziell grenzenlosen Wert-Sensibilität, ihrer Fähigkeit zu Selbst-Reflexion wie auch zum dialogischen Brückenschlag zu einem Du, mit ihrer Naturverbundenheit und zugleich mit ihrer immensen Kulturträchtigkeit – kurz: mit ihrer Personalität das phantastischste, großartigste, individuellste, diverseste, unausrechenbarste Lebensphänomen, das wir kennen. Eben diese Attribute rufen jedoch in totalitären Staaten mit deren unermesslichen Kontrollbedürfnissen alle nur denkbaren Strategien der Einebnung, Nivellierung, Eliminierung von Personen oder auch der Homogenisierung von Individualitäten hervor.

© Jörg Brüggemann

Völlig gleichgültig, welchen der diktatorisch-totalitären Staaten im 20. und 21. Jahrhundert wir betrachten – Russland und die Sowjetunion von 1917 bis (mit Unterbrechungen) zum heutigen Tag; Italien unter Benito Mussolini; Spanien unter Francisco Franco; Deutschland unter Hitler; Rumänien unter Nicolae Ceaușescu; Albanien unter Enver Hoxha; Kambodscha unter Pol Pot; die Volksrepublik China unter Mao Zedong; den Iran seit 1979 (islamische Republik); Nordkorea seit 1948 –, sie alle verachteten oder verachten die Personalität des Einzelnen und treten seine Würde mit Füßen. Und sie begreifen sich als hermetische und geschlossene Gesellschaften, die ihre säkularen oder religiösen Ideologien gegen Dissidenten, Ketzer, kritische Intellektuelle nach innen wie nach außen gnadenlos verteidigen. 

Den Terminus und das Konzept der geschlossenen im Gegensatz zur offenen Gesellschaft hat vor allem Sir Karl Popper (1902-1994) bekannt gemacht. Popper zählte neben Hannah Arendt zu jenen prominenten Philosophen, die eine dezidiert tiefschürfende Totalitarismus-Kritik formuliert haben. In "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" (1945) benannte er einerseits philosophische Denker, die dem Totalitarismus und einer geschlossenen Gesellschaft ungewollt Vorschub geleistet haben. Insbesondere in der Philosophie von Platon, Hegel und Marx entdeckte Popper Weichenstellungen hin zu geschlossenen Sozietäten.

Andererseits verdeutlichte er die Notwendigkeit, in der Politik auf absolute Wahrheiten, eindimensionale Werte und utopische Heils- und Erlösungslehren mitsamt ihren Versprechungen komplett zu verzichten. Statt glorreicher Entwürfe für ein Volk oder die gesamte Menschheit plädierte Popper für bescheidene und überschaubare Teilprojekte, die rational mithilfe der Wissenschaften und einer nüchternen Philosophie angegangen und permanent kritisch überprüft werden sollten. Hinsichtlich eines angeblichen Sinnes der Geschichte beschwor er die Menschen, hellhörig und wach zu bleiben, weil dieser Sinn sich oft genug lediglich als fadenscheinige Begründung für Verbrechen, Krieg und Völkermord sowie für Totalitarismen aller Art erwiesen hat:

"Die Geschichte hat keinen Sinn; das ist meine Behauptung. Aber aus dieser Behauptung folgt nicht, dass wir nichts tun können, dass wir die Geschichte der politischen Macht mit Entsetzen akzeptieren müssen oder dass wir gezwungen sind, sie als einen grausamen Scherz hinzunehmen... Wir können die Geschichte der Machtpolitik deuten im Sinn unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für eine Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens. Obwohl die Geschichte kein Ziel hat, können wir ihr dennoch diese unsere Ziele stellen." Karl Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2" (1945), Tübingen 1992, S. 326

George Orwell – eine Kassandra der Moderne?

Diesen letzten Sätzen Poppers hätte Orwell zugestimmt – und deshalb habe ich in der Überschrift meines Essays das Fragezeichen hinter der Kassandra der Moderne mit Bedacht und Überlegung gesetzt. Anders als bei der tragischen Weissagungs-Gestalt aus der griechischen Mythologie beabsichtigte Orwell nicht, düstere Prognosen über die Zukunft auszustoßen und sich in das Schicksal eines nicht adäquat Wahrgenommenen und zu Unrecht nicht Gehörten zu fügen.

Bei Orwell haben wir es seit Jahrzehnten mit eher gegenteiligen Effekten zu tun. So gibt es die weitverbreitete Tendenz in der Öffentlichkeit, in Politik, Kultur und Gesellschaft, Autoritarismen, staatliche Überwachungen von Einzelnen oder Gruppen, sprachliche Zwei- und Mehrdeutigkeiten im öffentlichen Raum oder die oftmals große Unheimlichkeitsgefühle auslösende Undurchschaubarkeit etwa von Digitalisierung und Globalisierung als Phänomene zu deuten, die längst von Orwell in Nineteen Eighty-Four so oder so ähnlich beschrieben worden sind, und die sich jetzt bewahrheiteten. Typisch Orwell – hört man; oder: Big Brother is watching you; oder: Wir sind der schwarzen Utopie ein beträchtliches Stück näher gerückt. 

So verlockend derartige Parallelen und Einordnungen auch klingen, so sehr bin ich der Meinung, dass sie Orwells Persönlichkeit und seine Intentionen in Bezug auf Nineteen Eighty-Four nur verzerrt widerspiegeln. Es gibt gute Gründe, Orwell nicht als pessimistischen und misanthropischen Dystopiker zu lesen, der Warnung um Warnung ausgestoßen hat – vielmehr als einen Skeptiker, der bei allem Realitätssinn und bei aller diagnostischen Nüchternheit im Hinblick auf den Totalitarismus „viel mehr Zutrauen zur Widerstandskraft des menschlichen Geistes hatte, als ihm gemeinhin attestiert wird“. (Margaret Atwood: "Orwell and me" (erschienen am 16. Juni 2003 im Guardian), zit. n. Rebecca Solnit: Orwells Rosen (2021), Hamburg 2022, S. 302).

Wiewohl er von seiner Welt- und Lebensanschauung zum Sozialismus neigte, war er stets davor gefeit, sich vor irgendeinen Ideologie-Karren spannen zu lassen. Sein Persönlichkeitsideal beinhaltete das autonome Individuum, den Homo pro se (Erasmus von Rotterdam bezeichnete sich selbst gerne so), der im Zweifel alleine steht und Positionen vertritt, die dem Mainstream und dem allgemeinen Trend in Kunst, Literatur, Politik und Gesellschaft nicht selten zuwiderläuft. Was kostet es an Mut, Ausdauer, Kühnheit und Vernunft, die totalitären Regime (Faschismus und Bolschewismus) als Einzelner, ohne akademisch-schützendes und inspirierendes Hinterland und als Tuberkulose-Kranker auf einer gott- und menschenverlassenen Hebriden-Insel wesensmäßig zu durchdringen und meisterlich kunstvoll-literarisch zu attackieren!

Margaret Atwood

© Collision Conf, CC BY 2.0

Orwell konnte dies, weil in seinem Charakter von Jugend an ein grundlegender Zug zum Aufsuchen und Ertragen härtester Lebensbedingungen vorhanden war. Er schonte sich nie – und er hat dadurch vermutlich seine Lebensdauer beträchtlich verkürzt. An Ruhe und Erholung dachte er kaum, aber bei aller Härte gegen sich selbst war er gegen andere eher mild und tolerant. Insgesamt wirkte er häufig melancholisch bis schwermütig, wobei dieser Eindruck verschwand, sobald er lächelte. Dann strahlten seine Augen, und seine versteckte Warmherzigkeit kam zum Vorschein. Obwohl er weder hinsichtlich seiner Kleidung noch in Bezug auf seine Wohn-Situationen aristokratisch wirkte, umgab ihn die Aura eines britischen Gentleman – eine Aura, die er in seinem Essay über Charles Dickens (verfasst 1939) diesem Autor zugeschrieben hat, und die jedoch mindestens so sehr auch auf ihn selber zutraf:

"Beim Lesen eines stark individuell geprägten Stücks Prosa hat man den Eindruck, irgendwo hinter der Buchseite ein Gesicht zu sehen… Was man sieht, ist das Gesicht, das der Schriftsteller haben sollte. Nun, im Fall von Dickens sehe ich ein Gesicht, das nicht ganz das Gesicht auf den Fotografien von Dickens ist, obwohl es ihm gleicht. Es ist das Gesicht eines Mannes um die Vierzig, von roter Gesichtsfarbe und mit einem kleinen Bart. Er lacht, mit einer Spur von Zorn in seinem Lachen, aber ohne Triumph und ohne Bosheit. Es ist das Gesicht eines Mannes, der immer gegen etwas kämpft, der dabei offen kämpft und keine Angst hat, das Gesicht eines Mannes, der auf großzügige Art zornig ist – mit anderen Worten: das Gesicht eines Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts, eines freien Geistes." George Orwell: "Charles Dickens" (1939), Zürich 1986, S. 95

Dem britischen Gentleman attestiert man gern (ich bekenne unumwunden meine diesbezüglich vorurteilsbeladene Einstellung) neben dessen psychosozialer sowie intellektueller Noblesse auch ein gehöriges Maß an Understatement zu. Bei Orwell paarte sich ein solcher Hang zur Untertreibung mit tatsächlicher Bescheidenheit und einem Stil des Daseins, den ich als unprätentiös, antisnobistisch und arm an narzisstischen Arrangements, aber überaus individuell bezeichnen möchte. Dazu passt, dass der Autor über sich keine Biografien veröffentlicht wissen wollte; bei seinem Versuch, etwas Autobiografisches über sich zu verfassen, publizierte er schlussendlich ganze zwei und eine halbe Seite, in denen wir unter anderem lesen:

"Neben meiner eigentlichen Arbeit schätze ich am meisten die Gartenarbeit, und davon besonders den Gemüseanbau. Ich mag die englische Küche und englisches Bier, französischen Rotwein, spanischen Weißwein, indischen Tee, starken Tabak, Kohlenfeuer im Kamin, Kerzenlicht und bequeme Sessel. Dagegen mag ich nicht große Städte, Lärm, Autos, das Radio, Konserven-Essen, Zentralheizung und moderne Möbel. Der Geschmack meiner Frau stimmt fast vollkommen mit dem meinen überein. Um meine Gesundheit steht es miserabel, aber das hat mich nie davon abhalten können, zu tun, was ich wollte." George Orwell: "Autobiographisches" (1940), in: Rache ist sauer, Zürich 1971, S. 8f.

Er selbst hat einmal deklariert, dass ein jeder Mensch aus zwei Persönlichkeiten besteht, aus einem Don Quijote und einem Sancho Pansa. Der Erstere sei meist ein Idealist mit hochfliegenden Plänen, indes der Letztere an den Realitäten des Daseins hänge und sich mit ihnen einzurichten wisse. Bei George Orwell überwog eindeutig das Don-Quijote-Hafte, das seinem Leben eine Fülle von Schwierigkeiten und mächtigen Herausforderungen und uns im Gegenzug ein imposantes Oeuvre mit zwei großartigen Meisterwerken bescherte. 

Zeitgenossen und Bekannte ebenso wie manche Verleger, Freunde, Geliebte und bisweilen auch seine Gattin Eileen hätten sich wohl in der einen oder anderen Situation mehr Sancho-Pansa-Artiges bei Orwell gewünscht – ein verständlicher Wunsch bei denjenigen, die direkter und alltäglicher mit ihm zu tun hatten. Ein Segen jedoch bedeutet es für die Kultur und für uns Nachgeborene, dass Orwell unbeirrt das Don-Quijote-Hafte bei sich hochhielt und bewahrte: Literatur, Kunst und innovatives Denken entspringen oftmals jenen Menschen, die aus Zufall, Not oder freien Stücken die etablierten Pfade der Existenz verlassen, neue Wege suchen und dafür die ihnen innewohnenden Werte als Kompass nutzen.

Ein Text von Gerhard Danzer.

Vielleicht interessiert Sie auch...