Welche Erzählungen landen im Archiv, welche vergessen wir lieber? Wie umgehen mit den schmerzhaften Kapiteln der eigenen Lebensgeschichte? Mit den Episoden, die du lieber tief unten im Karton lässt, obwohl du ohne sie nicht wärst, wer du heute bist? In ihrem Memoir "Das Archiv der Träume" hat Carmen Maria Machado darauf eine Antwort gefunden: Sie erzählt von der Literaturstudentin Carmen, die sich die Deutungshoheit über ihre von Gewalt und Manipulation geprägte Beziehung zur charismatischen, unberechenbaren 'Frau im Traumhaus' zurückerobert. Spielerisch springt Machado zwischen den Genres, errichtet das Traumhaus ihrer Erinnerung immer wieder neu – als Liebesroman, Beichte, Spionagethriller oder Selbsthilfe-Ratgeber –, um es sogleich wieder einzureißen. Sie räumt auf mit dem Klischee von der lesbischen Liebesgeschichte als heiler Utopie: "Ich trage ins Archiv ein, dass häusliche Gewalt zwischen Partner*innen mit der gleichen Geschlechtsidentität möglich und nicht unüblich ist. Ich werfe den Stein meiner Geschichte in eine gewaltige Schlucht und ermittle das Ausmaß der Leere anhand des leisen Aufschlags."
Autor:in Leo Lorena Wyss (u.a. Nestroy-Preis Bester Nachwuchs) hat Machados Text für das Berliner Ensemble dramatisiert. Jules Head aus Bristol begibt sich mit viel Lust am Ausprobieren auf die Suche nach einer Bühnensprache für die psychologischen Mechanismen traumatischer Erlebnisse.
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Bitte beachten Sie: In dieser Inszenierung kommen Stroboskop-Effekte zum Einsatz.
Im Traum(a)haus
"Wer weiß von uns? Früher hätte das vieles bedeuten können. Wer weiß, dass wir zusammen sind? Wer weiß, dass wir uns lieben? Wer weiß, dass wir queer sind? Aber jetzt: Wer weiß, dass ich dich so anschreie?"
Als Carmen Maria Machados "Das Archiv der Träume" 2019 in den USA erscheint, trifft es einen Nerv. Scheinbar nie zuvor wurde Gewalt in lesbischen Liebesbeziehungen so in einem literarischen Werk thematisiert – umfassend, schonungslos, formal ambitioniert. Machado bricht mit einem Tabu, das lange besagte: Die lesbische Community steht derart unter Beschuss von außen, dass innerhalb der Community das Bild der heilen Beziehungswelt aufrechterhalten werden muss. Wir können uns keine schlechte PR leisten.
Machado wählt die Gattung des Memoir. Die Geschichte, die sie erzählt, ist ihr real passiert; ihre Protagonistin heißt Carmen wie sie selbst. Carmen ist Anfang Zwanzig, studiert Kreatives Schreiben in Iowa City und verliebt sich Hals über Kopf in eine andere junge Schriftstellerin, Machado nennt sie nur "die Frau aus dem Traumhaus". Das Hindernis, dass die Geliebte bereits vergeben ist, räumt diese schnell aus dem Weg. Sie schlägt eine Dreiecksbeziehung vor. Ihre Freundin, Val, sei dafür offen. Doch die polyamore Lovestory bekommt bald Risse und Carmen findet sich in einem Gefängnis aus psychischer und physischer Gewalt, Manipulation und Abhängigkeit wieder, aus dem sie erst Jahre später einen Ausweg finden wird.
Mit dem Leben und einem Trauma davongekommen, in einer glücklichen Ehe mit Val (ausgerechnet der Frau, die zu Beginn ebenfalls Teil des Dreiecks war) fragt sie nun: Was ist mir da passiert? Wieso konnte ich dieser Beziehung so lange nicht entfliehen? Was braucht es, damit ich das Geschehene überwinden kann? Und was, damit andere mir glauben? Hier setzt die Inszenierung von Jules Head an: Carmen und Val begeben sich im Werkraum auf einen Reenactment-Parcours durch Carmens Vergangenheit, dabei schlüpft Val immer wieder in die Rolle der Täterin. "Erinnerung ist eine Form der Architektur", schrieb die Künstlerin Louise Bourgeois. Im "Archiv der Träume" werden Carmen und Val zu Architektinnen eines Traum(a)hauses und Archivarinnen eines unfertigen Kapitels queerer Geschichtsschreibung.
Von Lucien Strauch
- Jules Head Regie
- Emilia Bongilaj Bühne
- Svenja Kosmalski Kostüme
- Tom Foskett-Barnes Musik
- Robert Matysiak Licht
- Lucien Strauch Dramaturgie