Brecht

Das Geschäft mit dem Gefühl

Dramaturgin Sibylle Baschung im Gespräch mit der Soziologin Eva Illouz über die Grenze zwischen Eigennutz und Selbstlosigkeit, sowie die Rolle der Liebe in der "Dreigroschenoper".

20.09.21
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Seit über zwei Jahrzehnten forschen Sie zu der Frage, wie der Konsumkapitalismus und die Kultur der Moderne unser Gefühls- und Liebesleben verändert haben. "Die Dreigroschenoper" ist in einer Phase entstanden, in der Brecht angefangen hat, sich mit den Regeln unseres ökonomischen Systems auseinanderzusetzen und mit seinen Auswirkungen auf unser Zusammenleben. Welche Regeln sind das und worauf bezieht sich die "Dreigroschenoper"?

 

Man kann die Art und Weise, wie sich der Kapitalismus auswirkt, auf zwei verschiedene Arten begreifen. Für Weberianer verändert er das Individuum selbst, das durch die Zwänge von Arbeitsethos und -disziplin zum Sklaven seiner selbst wird. Der Protestant und der Kapitalist verfallen nicht ihren Leidenschaften, sondern ihrem Zwang, zu arbeiten. In Max Webers Auffassung schafft der Kapitalismus eine anonyme Welt der Regulierungen und Imperative. Die Welt wird entzaubert und verliert ihren Sinn. Es ist eine Welt, in der wir dazu verdammt sind, Gewinn zu machen. In der wir einer Vernunft unterstellt sind, der es ums Regulieren und Unterjochen geht. Dadurch berauben wir die Welt ihrer Götter und machen die Natur zu einem Ding, das übersättigt ist von Bedeutung.

Marx dagegen hatte ein anderes Verständnis vom Einfluss des Kapitalismus: Für ihn ist der Kapitalismus voller Gewalt und basiert auf brutalen Vorgängen wie Enteignung, Kolonialismus, Vorherrschaft und Diebstahl. Die Tatsache, dass Arbeiter in Fabriken organisiert und von grausamen Vorarbeitern gewaltsam kontrolliert wurden, konnte erst geschehen, nachdem man sie von ihrem Land vertrieben hatte. Für Marx enteignet, vertreibt und erpresst der Kapitalismus. Außerdem unterläuft und zerstört er Brauchtum und Lebensweisen, stattdessen lässt er einen immensen Wettbewerb zwischen den Menschen entstehen. Von diesem dauerhaften Chaos profitieren nur sehr wenige, die große Mehrheit verarmt wirtschaftlich und geht leer aus, wenn es um moralische Wertvorstellungen geht.

Brecht orientiert sich vor allem an Marx’ Weltbild, für ihn ist Kapitalismus unrechtmäßige Besitzergreifung und Entwendung. Mehr noch: in seinen Stücken zeigt er, dass es eine schier reibungslose Kontinuität zwischen der Welt des seriösen Geschäfts und der des Diebstahls und der Kleinkriminalität (oder auch des Hochverbrechens) gibt.

Was bedeutet das für das Zusammenleben?

 

Eine der Kernfragen nach der Natur des Kapitalismus ist, ob Profitglaube die moralischen Werte einer Gesellschaft zersetzt und ob er, wie Marx es behauptete, tatsächlich alles zerstört: Tradition, Gemeinschaft, Familienbindungen und Moralität. Diese Frage bleibt offen. Der Kapitalismus bedarf des ständigen Gewinns und der neuen Märkte und hat so eine immens zerstörerische Kraft, was existierende soziale Strukturen angeht.

Es bedeutet, dass der Kapitalismus definitionsgemäß die Regeln und Normen verdrängt, die Gemeinschaft und Familie zusammenhält. Indem Frauen, zum Beispiel, durch Schönheitsideale, sexuelle Freiheit und Erotik gezielt zu Konsumentinnen gemacht werden, trägt der Kapitalismus dazu bei, die traditionelle Rolle der Frau in der Familie und den damit verbundenen Begriff von Weiblichkeit zu unterlaufen. Das hilft in manchen Fällen emanzipatorischen, in anderen eher regressiven Kräften. Sexualität kann sich liberalisieren, solang es dem freien Markt so weitreichend dient, wie es das bis dato getan hat. Polly, zum Beispiel, emanzipiert sich, indem sie zur Geschäftsfrau wird. Brechts Figuren sind unmoralische Diebe, die die Kernideologien der Kapitalisten verkörpern: Geschäft geht über alles, was bedeutet, dass jegliche Erwägung von Mitleid, Menschenliebe und Altruismus missachtet und verhöhnt wird. Wie eine der Figuren sagt: das ist „der unnatürliche Zustand, in welchem er [der Mensch] bereit ist, Geld herzugeben.“

Es bleibt noch eine weitere Konzeption des Kapitalismus, die genau entgegengesetzt argumentiert, und in der Kapitalismus als moralische Kraft angesehen wird. Im 18. Jahrhundert wurde dies „doux commerce“ genannt, die zivilisatorische Kraft des Kapitalismus. Menschenliebe, Mitleid und enge Verbindungen entstehen hier aus der Tatsache, dass der ökonomische Austausch miteinander das gegenseitige Bekriegen ersetzt. Der Kapitalismus zerstört also eine immense Menge an Beziehungen, aber er befriedet soziale Beziehungen auch und lässt Kriege weniger lohnend erscheinen. Warum einen Krieg mit China anfangen, wenn man deren Arbeiter:innen billiger ausbeuten kann?

 

Welche Rolle spielt Moral im Kapitalismus? 

 

Wenn man eine Marktnische dafür findet, dann kann die Moral eine enorme Rolle spielen. Ethischer Konsum, fair trade, Bioprodukte sind alle populär geworden, weil sie Märkte eröffnen. Solange es einen Markt für moralische Positionen gibt, werden kapitalistische Unternehmer:innen diese gern befürworten. Doch wenn diese Position zu viele Interessen bedroht, dann ist Moralität sehr viel schwieriger anzusprechen. 

Man schaue auf die fehlende Moral von Google, Apple, Facebook, Amazon oder Twitter, die maßgeblich am Verfall der gegenwärtigen politischen Zustände und der Polarisierung der Bürger:innen in feindliche Lager beteiligt sind. Es hat sich gezeigt, dass wirkliche Veränderung und soziale Verantwortung hier nicht machbar sind, es sei denn, es handelt sich um einen Putschversuch auf die amerikanische Demokratie. Moral ist also nicht selbstverständlicher Gegensatz zum Kapitalismus. Solange sie vermarktet werden kann. 

© Jörg Brüggemann / OSTKREUZ

Hat sich an unseren Einstellungen zu Liebe und Freundschaft etwas Grundsätzliches verändert?

 

Liebe und Freundschaft werden normalerweise als Bereiche jenseits von Wirtschaftlichkeit verstanden. Aber wir sollten vorsichtig mit dieser Ansicht sein, da Eigeninteresse in vorkapitalistischen Gesellschaften extrem verbreitet war. Man suchte sich die Freunde, die einen gegen bestimmte Feinde unterstützen konnten. Man suchte sich seine Frau aus, indem man entschied, ob sie gesund und stark genug war, um den Belastungen der landwirtschaftlichen Arbeit standzuhalten oder auch genug Vermögen hatte, um den eigenen adligen Lebenswandel zu erhalten. Auf die eine oder andere Weise war die vormoderne und vorkapitalistische Zeit sehr viel pragmatischer als unsere gegenwärtige. Die Kultivierung der Gefühle wird dann möglich, wenn man genug besitzt, um seine Bedürfnisse zu stillen. 

 

"Unsere Kultur ist von der Liebe so fasziniert, weil die Liebe uns die geheimnisvolle Grenze zwischen Eigennutz und Selbstlosigkeit aufzeigt." Eva Illouz

Die Beziehung von Macheath zur Welt ist eine des völligen Pragmatismus und des schonungslosen Eigeninteresses. Daher ist die Freundschaft zwischen ihm und Tiger Brown nicht beispielhaft. Die Figur der Prostituierten Jenny ist ebenso problematisch. Im Kapitalismus wird die Prostitution zum Paradigma menschlicher Beziehungen. Denn sobald Beziehungen von Geld regiert werden, ist man nicht mehr wirklich an sie gebunden. Das bringt große Freiheit, aber löst gleichzeitig die Bande von Loyalität und Treue. Marx hat das sehr gut formuliert: „Alles Ständische und Stehende verdampft.“ Es verdampft, da Geld die Verpflichtungen und Loyalitäten auflöst. Wenn ich zwanzig Jahre lang für das Berliner Symphonieorchester gearbeitet habe und dann eine sehr viel bessere Stelle im Dubai Symphonieorchester angeboten bekomme, würde ich meine deutsche Stelle aufgeben. Der moderne Sport funktioniert nach demselben Prinzip. Was immer bezahlt wird, wird zu einem Tauschhandel, der von Gegenseitigkeit, Treue und Bindung befreit ist. Man sieht sich als jemand, der Dienstleistungen erbringt und entschädigt werden muss. Eine Prostituierte bietet Sex an. Sie muss nicht loyal sein oder ihren Kunden Gefühle entgegenbringen. Prostitution ist daher gleichzeitig das Musterbeispiel des Kapitalisten und seiner Opfer. 

 

Polly besteht zu Beginn vehement auf der Liebe…

 

Unsere Kultur ist von der Liebe so fasziniert, weil die Liebe uns die geheimnisvolle Grenze zwischen Eigennutz und Selbstlosigkeit aufzeigt. Polly ist eine Figur, die ihren Eltern die Stirn bietet und einen Partner wählt, der ihrem Vater gleicht, doch gleichwohl ist sie auch modern, insofern sie einen Partner nach ihrem Herzen wählt. Kapitalismus erlaubt jungen Menschen, dies zu tun: eine Partnerin oder einen Partner gegen den Willen der Eltern auszuwählen, da es wirtschaftliche Unabhängigkeit verspricht. Der Kapitalismus hat die Autorität der Eltern untergraben. Eben dieses Drama spielte sich in vielen Familien zur Zeit von Brechts Stück ab.

© JR Berliner Ensemble

Ich bin skeptisch, inwieweit Polly ihrem Herzen folgt oder vielmehr medial vermittelten Bildern und Vorstellungen von Liebe und Romantik.

 

Massenmedien und weitreichende Individualisierung gehen Hand in Hand, was bedeutet, dass das Individuum auf Basis seiner Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche für sich entscheiden kann. Es gehört zur Ironie dieser Entwicklung, dass die Massenmedien gleichzeitig eine weite Bandbreite an Verhaltensweisen und Gefühlen kodifiziert und stereotypisiert haben.

 

Welchen Prinzipien folgt Macheath?

 

Peachum und Macheath sind Gangster, die sich als Bettler verkleiden. Doch gegenüber Frauen zeigen beide Verhaltensweisen auf, die durch und durch bürgerlich sind: Peachum ist verheiratet und sein Verhältnis zu seiner Tochter ist geprägt von Besitztum. Er gleicht hier einem Patriarchen. Er kann so handeln, da er sein Geschäft besitzt. Macheath benutzt Prostituierte, kauft sie, heiratet verschiedene Frauen, lügt sie an und verletzt sie und im Endeffekt macht er sie – wie alle großen Verführer, ob Casanova oder Don Juan – austauschbar. Ersetzbarkeit und Instrumentalisierung sind der Stoff, aus dem der Kapitalismus gemacht ist.

Die Frauen stehen Macheath in dieser Hinsicht in nichts nach: sie verraten ihn und lassen ihn fallen, sobald sie nicht mehr mit und von ihm profitieren können. Auch Polly besteht auf sexuelle Freiheit, Selbstverwirklichung und hat gleichzeitig Besitzansprüche. Ernst gemeintes Gefühl steht neben falschem Sentiment, nicht immer sind sie trennscharf voneinander zu unterscheiden.

 

Seit Madame Bovary bleibt der Verdacht, dass Liebe, die von der Medienindustrie wiederaufbereitet wird, ein Schwindel und bloße Einbildung ist. Der Kapitalismus hat unsere innere Welt nachhaltig verändert. Er suggeriert uns Traumwelten, die sich einprägen und unsere Vorstellungskraft anregen. Kein Wunder, dass es unmöglich wird, Fakt und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Wir leben im Schatten von etwas, das Adam Philipps „das ungelebte Leben“ genannt hat: das Leben der Reichen, Schönen und Berühmten, ein Leben des Glücks und Erfolges. Dieses ungelebte Leben sucht das echte Leben heim.

 

Wie also kann Liebe überleben?

 

Der Kapitalismus übertreibt die Idee des Individuums: dessen Fertigkeiten, Kapazitäten, und Besonderheiten. Er macht uns einzigartig, unnachahmbar, einmalig. Das macht es schwieriger, Liebe aufrechtzuerhalten, denn um zu lieben braucht man dasselbe, was nötig ist, um eine soziale Gemeinschaft und Gesellschaft aufzubauen: es bedarf einer gemeinsamen Lebenswelt, für die man akzeptiert, seine Einzigartigkeit aufzugeben.

 

Aus dem Englischen von Ramona Mosse.

Eva Illouz, geboren 1961, ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique, CSE-EHESS in Paris.

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