Eine Idee lässt sich nicht töten

Eine Einführung zum Stück "1984"

Der Atheist George Orwell betont mit seinem Roman "1984" die religiöse Dimension totalitären Machtstrebens und fragt: beherrscht das Denken die Wirklichkeit? Und wenn ja - was dann?

von Sibylle Baschung | 16.11.23

© Jörg Brüggemann

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„Das wirklich Erschreckende am Totalitarismus“, schreibt Orwell 1944, „ist nicht, dass er Gräueltaten begeht, sondern, dass er das Konzept der objektiven Wahrheit angreift: Er erhebt den Anspruch, sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft zu bestimmen.“ Laut O’Brien, dem Chefideologen des fiktiven totalitären Regimes von „Big Brother“ in 1984, existiert die Wirklichkeit nur im menschlichen Bewusstsein. Und das ist, wie wir nicht erst seit Internet und Fake News wissen, unendlich formbar. Wer also das Denken der Menschen kontrolliert, verfügt über die Welt, gestaltet sie. Gottgleich. 

Soweit die Idee.

"Wenn sowohl die Vergangenheit als auch die äußere Welt nur im Denken existieren und wenn das Denken kontrolliert werden kann - was dann?" Winston Smith in "1984"

Der Atheist George Orwell betont damit die religiöse Dimension totalitären Machtstrebens. Und als Humanist stellt er die Frage nach der Anfälligkeit für die Verheißungen des totalitären Denkens ausgehend von dem menschlichen Grundbedürfnis nach Erlösung von Leid und Schmerz. Das Aufgehen des Einzelnen in einer Idee, die Flucht aus dem privaten, sterblichen Ich, verspricht ungetrübtes Glück und Unsterblichkeit. Denn eine Idee lässt sich nicht töten.

Sogar Winston und Julia, die im Roman auf selbstbestimmtem Denken, Fühlen und Begehren bestehen, sind nicht gefeit vor entsprechenden Heilslehren und ihrem allumfassenden Anspruch. Auch sie wären bereit, für deren Durchsetzung Gräueltaten zu verüben, als sie sich der Widerstandsbewegung von Emmanuel Goldstein anschließen, die sich als von O’Brien erfundene Falle herausstellt. 

Trotz aller Inhumanität in der Menschheitsgeschichte hat Orwell immer an das potenziell Menschliche im Menschen geglaubt. Und an eine gemeinsame, auf Tatsachen und nicht auf Wunschdenken oder paranoiden Feindbildern basierende Geschichte und Gegenwart.

© Jörg Brüggemann

Auch Winston und Julia halten daran fest und begehen damit das grundlegende Verbrechen, das alle anderen enthält: „Denkkrim“. Falsches Denken. Denn der Blick auf das, was wirklich ist, ist nicht erwünscht. Durch Folter innerlich gebrochen und umerzogen wird Winston am Ende erschossen. Dass dies dennoch nicht den Sieg des Totalitarismus bedeutet, begründet Margaret Atwood 2003 im Guardian mit dem Anhang des Romans, in dem die Welt von "1984" als eine Vergangene beschrieben wird: „Deshalb glaube ich, dass Orwell sehr viel mehr Zutrauen zur Widerstandskraft des menschlichen Geistes hatte, als ihm gemeinhin attestiert wird.“

In diesem Sinne sucht Regisseur Luk Perceval den Lichtstreifen in der ansonsten auswegslosen Geschichte des Romans. Nicht gegen, sondern mit Orwell.

Weiterführende Links

Dramaturgin Sibylle Baschung empfiehlt für die weitere Beschäftigung mit dem Stoff und mit George Orwell das Buch "Orwells Rosen" von Rebecca Solnit, sowie Orwells Essayband "Der Bauch des Wals". Dazu finden Sie hier eine Buchkritik des Deutschlandfunk. Wer die Welt von "1984" aus Julias Perspektive entdecken will, kann dies mit Sandra Newmans Roman "Julia" tun.

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