Ich erfinde, also bin ich.

Ein Essay von Helge Malchow

Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" offenbart im Kern eine verschleierte autobiografische Handlung. Was dafür spricht, hat Helge Malchow aufgeschrieben.

14.03.22

© Matthias Horn

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Wenn man in literaturgeschichtlichen Rückblicken oder Rezensionen nachliest, welchen Reim sich seit einem halben Jahrhundert Germanist:innen und Kritiker:innen auf "Mein Name sei Gantenbein" machen, verblüfft die Übereinstimmung: schnell ist man bei der zerbrochenen Liebesbeziehung zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann, den Eifersuchtsdramen und den Liebesverletzungen, die sich die beiden zugefügt haben und die der Autor Max Frisch "verarbeitet" habe. 

Ingeborg Bachmanns dokumentierte Verletztheit und ihr eigener Roman Malin dienten als Bestätigung dieser Lesart. Die offensichtlich fiktionalen Abweichungen und die verwirrenden Widersprüchlichkeiten der Romanhandlung erscheinen so als Versteckspiel oder Verkleidung eines im Kern autobiografischen Geschehens.

Für alle diese Lesarten wird eine der Szenen im vorderen Teil des Romans zum eigentlichen Auftakt. Ein Mann sagt: "Ich sitze in einer Wohnung: meiner Wohnung. Lang kann’s nicht her sein, seit hier gelebt worden ist. Ich sehe Reste von Burgunder in einer Flasche." Aber nichts im gesamten Roman spricht dafür, dass diese Szene, in der ein Mann verloren und verlassen in eine Wohnung zurückkehrt, die er einst mit einer Frau bewohnt hat, eine Art höhere Wahrheit besitzt als alle anderen Entwürfe des Erzählers, die wir als Leser von ihm davor, danach und parallel vorgeführt bekommen. Immer wieder durchzieht stattdessen der berühmt gewordene Satz das Roman-Geschehen: "Ich stelle mir vor." Eine Art Erinnerung, eine Selbstermächtigung: Ich erfinde, also bin ich.

 

© Matthias Horn

Über weite Strecken des Romans ist die weibliche Hauptfigur eine Schauspielerin. Ihr Ehemann simuliert Blindheit und betrachtet so ungestört als Zuschauer das Menschentheater um sich herum. Der Roman Gantenbein ist ein Buch über das Theater des Alltags, aber er ist zugleich ein theatralisches Buch: Der Erzähler innerhalb des Romans verfügt frei wie ein Dramatiker oder Theaterregisseur über das von ihm erfundene Geschehen und kann es jederzeit modifizieren, unterbrechen, wiederholen oder abbrechen. So wird die "Rolle", die laut der Soziologie menschliches Handeln determiniert, im Raum des Theaters umfunktioniert zu einem Instrument der Freiheit.

Im Gantenbein-Roman wechselt der Erzähler immer wieder, oft sogar innerhalb eines Satzes, vom "Ich" zum "Er". So entsteht ein befreiendes Spiel zwischen Selbstbetrachtung und Fremdbetrachtung, eine Art dauerhafte Behauptung und zugleich eine Infragestellung von Identität. Und dieses Spiel wird betrieben von einem Erzähler, der alle Figuren des Romans und ihre Lebens-Manöver erfindet und beobachtet. Dieser Erzähler wiederum ist selbst eine Erfindung eines Autors namens Max Frisch, der mit diesem Erzähler sein Spiel spielt oder ihn sein Spiel spielen lässt. 

Die Romanfiguren insgesamt bekommen in einem Akt der freien Erfindung von einem Erzähler Rollen zugewiesen wie Kleider. Erst dadurch werden aus Erfahrungen Handlungen. Erst dann kann man sich die Erfahrungen als Geschichten erzählen. Und dies gilt nicht nur im Theater und im Roman: "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, sage ich. Oder eine ganze Reihe von Geschichten."

Die Namen Gantenbein, Svoboda, Enderlin, die Berufe Kosmetikerin, Schauspielerin, Wissenschaftler sind fluide, sie "stimmen" eine Zeit lang, dann werden sie verändert. Den Roman durchzieht eine ständige Bereitschaft zur Veränderung und zum Zweifel, zur Revision bisheriger Abläufe. Wenn es überhaupt eine Art festen Rahmen gibt, etwas Unhintergehbares, ist dieser lediglich durch die Anfangs- und Endszene des Romans markiert: zwei Todesereignisse, die das Geschehen einrahmen und eine Art existentiellen Druck erzeugen, der auf den Figuren mitsamt dem Erzähler lastet und sie zugleich bewegt. 

So wird die Lektüre des Romans zu einer Übung in De-­konstruktion, in Auflösung von angeblich unhintergehbaren Lebenstatsachen und -zwängen. Das Werkzeug der Auflösung ist das Erzählen: "Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu."Das heutige inflationäre Gerede von "Erzählung": Die SPD braucht eine Erzählung. Der Fußballverein braucht eine Erzählung. Das Unternehmen braucht eine Erzählung. 

Bei Max Frisch hat das Wort noch seine Unschuld und Erkenntniskraft: Hier ist Erzählen eine Form der Sinnstiftung, die Einrichtung eines vorübergehenden Gebäudes, in dem man leben kann, das Schutz bietet und Struktur. Und das zugleich beengt und eingrenzt, Freiheit raubt, Zwänge erzeugt und deswegen kündbar sein muss, jederzeit. Oder umbaubar. Verschiebbar. 

"Die Romanfiguren insgesamt bekommen in einem Akt der freien Erfindung von einem Erzähler Rollen zugewiesen wie Kleider." Helge Malchow

Eine Frage von heute zurück an einen Roman aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts: Woher stammt die im Roman jederzeit spürbare, heute hochmodern wirkende Sehnsucht des Autors Max Frisch von damals, Rollenmuster, Identitätsbeschreibungen, Geschichten, die Zwangsjacken sein können, literarisch so leidenschaftlich zu attackieren? Welche Erfahrung liegt dem zugrunde? Was erzeugt den heftigen Wunsch zu diesem Transzendenz-Training? Womöglich ist diese Passage, in der Gantenbein spricht, eine Antwort: "Denn die Zukunft, das wusste er, das bin ich, ihr Gatte, ich bin die Wiederholung, die Geschichte, die Endlichkeit und der Fluch in allem, ich bin das Altern von Minute zu Minute."

Aber dann wird auch diese Rebellion gegen die Zwänge der Gleichförmigkeit und Wiederholung selbst in Zweifel gezogen. Bei einer Abendgesellschaft wird die politische Lage der Zeit beredet, Kommunismus und Imperialismus, Kuba, die Berliner Mauer, Meinung und Gegenmeinung, bis plötzlich ein Mann von seiner Flucht von Ost nach West erzählt, bei der ein Begleiter stirbt und seine Braut zurückbleibt. "Wir alle verstummten", heißt es da. Und: "Ich frage mich dann selbst dann angesichts jeder wirklichen Geschichte, was ich eigentlich mache: Entwürfe zu einem Ich!" Im Leid und Tod gerät offenbar das Spiel des Romans selbst in den Verdacht der Dekadenz und des Zynismus . Zumindest in den Augen einer Figur des Romans.

Im Vergleich mit dem so produktiv schwankenden Boden dieses Textes wirken die großen Romanfiguren von Max Frischs Zeitgenossen und -genossinnen eigentümlich festgeschraubt in den Geschichtsgerüsten, die ihnen ihre Autorinnen und Autoren verpasst haben. Die Figuren in Gantenbein dagegen bestehen den Gegenwartstest sogar bei Leserinnen und Lesern von heute, Leserinnen und Lesern von Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler. Auch wenn diese das Theater der Identitäten auch noch in ganz andere Richtungen unterwandert haben.

Helge Malchow hat bis 2019 den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch geleitet. Ob er "Mein Name sei Gantenbein" heute veröffentlichen würde, wenn man ihm das Manuskript anböte? Was für eine Frage!

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